90 Jahre nach der Volksabstimmung

Vor 90 Jahren: Als die Saarländer „heim ins Reich“ wollten

Jimmy Both   13.01.2025 | 07:42 Uhr

Der 13. Januar ist ein besonderer Tag in der saarländischen Geschichte. 1935, vor 90 Jahren, entschieden die Menschen im damaligen Saargebiet über ihre Zukunft: Zu Frankreich, weiterhin vom Völkerbund verwaltet, oder zu Deutschland – und damit zu Hitler. Ein Fotobestand des Landesarchivs dokumentiert nun den Abstimmungskampf.

Vorsichtig muss man die Negative anfassen. Nur mit Handschuhen dürfen sie aus den Schutzhüllen genommen werden. Die Fotos wurden nicht auf Film aufgenommen, sondern auf speziell beschichteten Glasplatten – eine fast vergessene Technik.

500 französische Pressefotos

„Diese Glasplatten gibt es seit etwa 1880“, sagt Jutta Haag vom Landesarchiv. „Man hat maschinell Glas zugeschnitten. Das wurde dann mit Gelatine und Silberbromidlösung als Trägermaterial beschichtet.“ Es entspreche einem modernen Negativfilm. „Besonders ist, dass die Negative gut zum Transportieren sind. Man braucht kein Stativ. Die Belichtungszeit ist relativ kurz, und der Pressefotograf konnte es einfach unterwegs mitnehmen und so vor Ort seine Bilder schießen“, berichtet Jutta Haag.

Sie hat den Bestand von etwa 500 französischen Pressefotografien digitalisiert und die Aufnahmen Ereignissen und Orten zugeordnet. Angeboten wurden die Aufnahmen dem Landesarchiv von einem Pariser Antiquariat. Nun lagern sie ideal konserviert und klimatisiert in einer Kammer des Archivs.

1935 - Schicksalswahl im Saargebiet
Video
1935 - Schicksalswahl im Saargebiet
13. Januar 1935. In einem Referendum können sich die Saarländer zwischen dem Status quo, dem Anschluss an Frankreich oder der Rückkehr nach Deutschland entscheiden.

Internationale Truppen an der Saar

Die Aufnahmen dokumentieren den Abstimmungskampf in den Wochen vor der Saarabstimmung am 13. Januar 1935. „Was mir als erstes aufgefallen ist, sind diese Menschenmassen,“ sagt Jutta Haag, „Das Interesse an den Abstimmungstruppen war immens in ganz Europa. Überall, wo die Truppen auftauchten, war viel Presse, viele Fotografen. Aber auch die Einheimischen haben sich interessiert.“

Schon mehr als neun Jahre vor dem D-Day 1944 landeten britische Truppen in der Normandie. Zum Kämpfen waren sie 1935 noch nicht gekommen. Sie sollten den ordnungsgemäßen Ablauf der Abstimmung im Saargebiet sicherstellen. Die französischen Fotografen begleiteten sie auf ihrem Weg nach Saarbrücken.

90 Jahre Saarabstimmung

15 Jahre vom Völkerbund verwaltet

Im Saargebiet tobte unterdessen der Kampf um die Abstimmung. Die rohstoffreiche Region war 1920 vom Deutschen Reich abgetrennt worden und stand seitdem unter Kontrolle des Völkerbunds mit Sitz in Genf. Frankreich erhielt als Ausgleich für die im 1. Weltkrieg erlittenen Schäden das Recht, die Saargruben 15 Jahre lang auszubeuten. 1935 sollte dann eine Volksabstimmung über die Zugehörigkeit der Saar entscheiden.

Bis zum 30. Januar 1933 waren sich alle politischen Kräfte im Saargebiet einig, dass man zu Deutschland zurückkehren wollte. Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler änderte die SPD an der Saar ihre Meinung und plädierte für den Status Quo, die Beibehaltung der Völkerbundsverwaltung bis Deutschland frei sei.

Etwas später schlossen sich die Kommunisten dieser Haltung an. Gemeinsam mit einigen katholischen Gegnern der Nationalsozialisten bildeten sie eine „Einheitsfront“.

Harter Abstimmungskampf

Doch die Gegner Hitlers waren in der Minderheit. Konservative, nationalliberale und rechtsextreme Kräfte gingen in der „Deutschen Front“ auf. Sie dominierte das öffentliche Bild. Beide Seiten mobilisierten ihre Anhänger.

Der Einheitsfront folgten zu ihrer größten Kundgebung im Sommer 1934 nach Sulzbach bis zu 70.000 Menschen. Die Abschlusskundgebung der Deutschen Front vor der Abstimmung verfolgten jedoch mehr als 300.000 Saarbewohner. Terror und Ausgrenzung gegenüber Gegnern der Rückgliederung waren nichts Ungewöhnliches.

Deutliche Mehrheit wollte Rückkehr zu Deutschland

Eine verschwindend geringe Zahl an Menschen votierte am 13. Januar 1935 für einen Anschluss an Frankreich. Der Status Quo erreichte knapp neun Prozent. Eine deutliche Mehrheit von 90 Prozent stimmte für die Rückgliederung an Deutschland. Auch die Siegesfeiern sind im Fotobestand des Landesarchivs dokumentiert.

In der sozialdemokratischen Zeitung „Deutsche Freiheit“, die im Januar 1935 in Saarbrücken zuletzt erschien, wurde die Stimmung nach der Verkündung des Ausgangs so beschrieben: „Es scheint, als sei alle Vernunft in einem Meer von Fahnen, in einer tosenden Brandung von Rufen und Gesängen untergegangen. Die sonst etwas steifen Saarländer sind in einer Raserei, die wirklich aller Beschreibung spottet.“

Nach der Abstimmung fliehen Menschen aus dem Saargebiet in Richtung Frankreich (Foto: Landesarchiv des Saarlandes)
Nach der Abstimmung fliehen Menschen aus dem Saargebiet in Richtung Frankreich

4000 Menschen flüchteten vor den Nationalsozialisten

Ab 1933 war das Saargebiet auch zu einem Zufluchtsort für Oppositionelle oder Juden geworden. Nach der Abstimmung 1935 mussten sie weiter in Richtung Frankreich oder Luxemburg ziehen. Auch einheimische Gegner der Nationalsozialisten verließen ihre Heimat.

Etwa 4000 Flüchtlinge machten sich auf einen ungewissen Weg. Wer nicht nach Frankreich einreisen durfte, passierte die Grenze oft ungesehen und lebte illegal und häufig in Armut und Angst vor Verhaftung. Am 1. März 1935 zog Adolf Hitler unter dem Jubel Tausender in Saarbrücken ein.

Über dieses Thema haben auch die SR info-Nachrichten im Radio am 12.01.2025 berichtet.


Mehr zu den beiden Saarabstimmungen 1935 und 1955

Staatsakt zur politischen Eingliederung der Saar | Rede von Konrad Adenauer
Audio [IDA, Konrad Adenauer, 01.01.1957, Länge: 15:27 Min.]
Staatsakt zur politischen Eingliederung der Saar | Rede von Konrad Adenauer
Das Saarland gehört jetzt zur Bundesrepublik Deutschland. Beim Staatsakt in Saarbrücken spricht Konrad Adenauer darüber, warum dieser Tag für die deutsch-französische Freundschaft, für Europa und für die deutsche Wiedervereinigung ein besonderer ist.

Die Saar gehört jetzt zur BRD - Konrad Adenauer fährt mit dem Zug durchs Saarland
Audio [IDA, Rolf Vogel, 01.01.1957, Länge: 14:51 Min.]
Die Saar gehört jetzt zur BRD - Konrad Adenauer fährt mit dem Zug durchs Saarland
Auf dem Weg zum Staatsakt anlässlich der Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik fährt Konrad Adenauer mit dem Zug durchs Saarland. Er hält an mehreren Bahnhöfen, wo die Saarländer ihn mit Blumen und Gesang willkommen heißen.

“Den bundesdeutschen Markt so schnell wie möglich erobern” | Interview mit Arthur Heidschmidt
Audio [IDA, Rolf Vogel, 18.09.1956, Länge: 10:31 Min.]
“Den bundesdeutschen Markt so schnell wie möglich erobern” | Interview mit Arthur Heidschmidt
Nach der Saarabstimmung 1955 steht fest: Das Saarland wird in die Bundesrepublik eingegliedert. Was bedeutet das für die weiterverarbeitende Industrie an der Saar?

Zur Änderung der Saar-Verfassung | Gespräch mit Saar-Politikern
Audio [IDA, Rolf Vogel, 05.10.1956, Länge: 18:39 Min.]
Zur Änderung der Saar-Verfassung | Gespräch mit Saar-Politikern
Für die Eingliederung des Saarlandes in die BRD muss die Saar-Verfassung geändert werden. Darüber spricht Bonner SR-Korrespondent Rolf Vogel mit Franz-Josef Röder (CDU), Erwin Albrecht (CDU) und Saar-Landtagspräsident Heinrich Schneider (DPS).

Saar100
Feature: "Das Ziel bleibt Europa"
Zum 50. Jahrestag der Saarabstimmung 1955 hat Peter Weitzmann im Jahr 2005 Zeitzeugen, Experten und Politiker befragt und ist der Frage nachgegangen, was hätte werden können, wenn die Abstimmung anders ausgegangen wäre.

SR-Fundstücke
Reichssender Saarbrücken - Symbol im „Äther“ für deutsche Stärke direkt an der Reichsgrenze
Die Völkerbund-Verwaltung erlaubte bis 1935 keinen Sender an der Saar. Auf einen eigenen Radiosender mussten die Saarländer also lange warten. Erst nach der Rückgliederung ins dann nationalsozialistische Deutschland sollten sie ihn bekommen. Am 4. Dezember 1935 hielt der „Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda“, Joseph Goebbels, in der mit Hakenkreuz-Fahnen „geschmückten“ Saarbrücker „Wartburg“ die Eröffnungsansprache. Zu diesem bislang kaum beachteten Dokument der Zeit- und Mediengeschichte befragte Axel Buchholz den Saarbrücker Medienhistoriker Prof. Clemens Zimmermann.

SR-Fundstücke
Wie Horst Slesina Zeitfunkchef des Reichssenders Saarbrücken wurde
Ein Kämpfer an vorderster Nazi-Front in der Propagandaschlacht vor der Saarabstimmung – das war Horst Slesina ebenso wie die beiden Reichsender-Intendanten Adolf Raskin und Karl Mages. Als Student schon ein Nationalsozialist, ab 1935 beim Reichssender Saarbrücken als Sportreporter ein Star, als SA-Mann ein Sturmbannführer, als Soldat ein linientreuer Draufgänger, als Kriegsberichterstatter ein wortgewaltiger Verkünder deutschen Kampfesmutes „gegen Tod und Teufel“, nach dem Krieg als Werbefachmann ein Ass – das alles war Horst Slesina auch.

Artikel mit anderen teilen


Push-Nachrichten von SR.de
Benachrichtungen können jederzeit in den Browser Einstellungen deaktiviert werden.

Datenschutz Nein Ja