Vor 90 Jahren: Als die Saarländer „heim ins Reich“ wollten
Der 13. Januar ist ein besonderer Tag in der saarländischen Geschichte. 1935, vor 90 Jahren, entschieden die Menschen im damaligen Saargebiet über ihre Zukunft: Zu Frankreich, weiterhin vom Völkerbund verwaltet, oder zu Deutschland – und damit zu Hitler. Ein Fotobestand des Landesarchivs dokumentiert nun den Abstimmungskampf.
Vorsichtig muss man die Negative anfassen. Nur mit Handschuhen dürfen sie aus den Schutzhüllen genommen werden. Die Fotos wurden nicht auf Film aufgenommen, sondern auf speziell beschichteten Glasplatten – eine fast vergessene Technik.
500 französische Pressefotos
„Diese Glasplatten gibt es seit etwa 1880“, sagt Jutta Haag vom Landesarchiv. „Man hat maschinell Glas zugeschnitten. Das wurde dann mit Gelatine und Silberbromidlösung als Trägermaterial beschichtet.“ Es entspreche einem modernen Negativfilm. „Besonders ist, dass die Negative gut zum Transportieren sind. Man braucht kein Stativ. Die Belichtungszeit ist relativ kurz, und der Pressefotograf konnte es einfach unterwegs mitnehmen und so vor Ort seine Bilder schießen“, berichtet Jutta Haag.
Sie hat den Bestand von etwa 500 französischen Pressefotografien digitalisiert und die Aufnahmen Ereignissen und Orten zugeordnet. Angeboten wurden die Aufnahmen dem Landesarchiv von einem Pariser Antiquariat. Nun lagern sie ideal konserviert und klimatisiert in einer Kammer des Archivs.
Internationale Truppen an der Saar
Die Aufnahmen dokumentieren den Abstimmungskampf in den Wochen vor der Saarabstimmung am 13. Januar 1935. „Was mir als erstes aufgefallen ist, sind diese Menschenmassen,“ sagt Jutta Haag, „Das Interesse an den Abstimmungstruppen war immens in ganz Europa. Überall, wo die Truppen auftauchten, war viel Presse, viele Fotografen. Aber auch die Einheimischen haben sich interessiert.“
Schon mehr als neun Jahre vor dem D-Day 1944 landeten britische Truppen in der Normandie. Zum Kämpfen waren sie 1935 noch nicht gekommen. Sie sollten den ordnungsgemäßen Ablauf der Abstimmung im Saargebiet sicherstellen. Die französischen Fotografen begleiteten sie auf ihrem Weg nach Saarbrücken.
15 Jahre vom Völkerbund verwaltet
Im Saargebiet tobte unterdessen der Kampf um die Abstimmung. Die rohstoffreiche Region war 1920 vom Deutschen Reich abgetrennt worden und stand seitdem unter Kontrolle des Völkerbunds mit Sitz in Genf. Frankreich erhielt als Ausgleich für die im 1. Weltkrieg erlittenen Schäden das Recht, die Saargruben 15 Jahre lang auszubeuten. 1935 sollte dann eine Volksabstimmung über die Zugehörigkeit der Saar entscheiden.
Bis zum 30. Januar 1933 waren sich alle politischen Kräfte im Saargebiet einig, dass man zu Deutschland zurückkehren wollte. Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler änderte die SPD an der Saar ihre Meinung und plädierte für den Status Quo, die Beibehaltung der Völkerbundsverwaltung bis Deutschland frei sei.
Etwas später schlossen sich die Kommunisten dieser Haltung an. Gemeinsam mit einigen katholischen Gegnern der Nationalsozialisten bildeten sie eine „Einheitsfront“.
90 Jahre Saarabstimmung
Harter Abstimmungskampf
Doch die Gegner Hitlers waren in der Minderheit. Konservative, nationalliberale und rechtsextreme Kräfte gingen in der „Deutschen Front“ auf. Sie dominierte das öffentliche Bild. Beide Seiten mobilisierten ihre Anhänger.
Der Einheitsfront folgten zu ihrer größten Kundgebung im Sommer 1934 nach Sulzbach bis zu 70.000 Menschen. Die Abschlusskundgebung der Deutschen Front vor der Abstimmung verfolgten jedoch mehr als 300.000 Saarbewohner. Terror und Ausgrenzung gegenüber Gegnern der Rückgliederung waren nichts Ungewöhnliches.
Deutliche Mehrheit wollte Rückkehr zu Deutschland
Eine verschwindend geringe Zahl an Menschen votierte am 13. Januar 1935 für einen Anschluss an Frankreich. Der Status Quo erreichte knapp neun Prozent. Eine deutliche Mehrheit von 90 Prozent stimmte für die Rückgliederung an Deutschland. Auch die Siegesfeiern sind im Fotobestand des Landesarchivs dokumentiert.
In der sozialdemokratischen Zeitung „Deutsche Freiheit“, die im Januar 1935 in Saarbrücken zuletzt erschien, wurde die Stimmung nach der Verkündung des Ausgangs so beschrieben: „Es scheint, als sei alle Vernunft in einem Meer von Fahnen, in einer tosenden Brandung von Rufen und Gesängen untergegangen. Die sonst etwas steifen Saarländer sind in einer Raserei, die wirklich aller Beschreibung spottet.“
4000 Menschen flüchteten vor den Nationalsozialisten
Ab 1933 war das Saargebiet auch zu einem Zufluchtsort für Oppositionelle oder Juden geworden. Nach der Abstimmung 1935 mussten sie weiter in Richtung Frankreich oder Luxemburg ziehen. Auch einheimische Gegner der Nationalsozialisten verließen ihre Heimat.
Darüber wie viele Menschen genau aus dem Saargebiet flohen, gibt es unterschiedliche Angaben. Manche Historiker sprechen von 4000 bis 8000 Flüchtlingen. Der Leiter des Saarbrücker Stadtarchivs, Hans-Christian Herrmann, geht sogar davon aus, dass allein nach Frankreich 12.000 Oppositionelle und Juden geflohen sind.
Nicht alle passierten die Grenze legal. Viele Verfolgte wurden abgewiesen und reisten illegal nach Frankreich. Dieser Umstand erschwert eine genaue Bezifferung der Zahl zusätzlich. Die illegalen Flüchtlinge lebten häufig in Armut und Angst vor Verhaftung. Am 1. März 1935 zog Adolf Hitler unter dem Jubel Zehntausender in Saarbrücken ein.
Über dieses Thema haben auch die SR info-Nachrichten im Radio am 12.01.2025 berichtet.
Mehr zu den beiden Saarabstimmungen 1935 und 1955
13.01.2025, 14:21 Uhr
Wir haben am Ende des Beitrags den Absatz zu geschätzten Flüchtlingszahlen aus dem Saargebiet präzisiert, weil die Angaben je nach Quelle stark schwanken.