Ein gnadenloser Dachs räumt auf
Retroutopisches Europa in Bryan Talbots Meisterwerk "Grandville"
Eine Retroutopie voll Blut und Liebreiz - so reizend ist das 5-bändige Epos von Bryan Talbot untertitelt. Tiere sind Menschen, Menschen sind Underdogs, das Ganze spielt in einem Retrouniversum, das den Zeichner Jahre seines Lebens gekostet hat. Meisterwerkalarm!
Es sind unruhige Zeiten. In Paris, der Grandville, kommt es immer wieder zu Unruhen und Attentaten. Verschiedene Gruppen versuchen die Macht an sich zu reißen. Eines Tages geschieht irgendwo in der Provinz ein Mord. Darauf angesetzt wird Inspektor Archibald LeBrock von Scotland Yard. Doch der Fall entpuppt sich als weit größer als zunächst gedacht.
Wäre das alles, könnten die „Grandville“-Comics von Bryan Talbot ganz normale Krimi-Geschichten sein. Sind sie aber nicht. Weder ist der Ermittler ein ganz normaler Polizist, noch stimmen die historischen Details mit dem überein, was wir so kennen. Bei LeBrock handelt es sich um einen hünenhaften Dachs auf zwei Beinen – fast immer bekleidet mit Bowler und Pelerinenmantel. Ihm zur Seite steht Sergeant Roderick Ratzi, eine dandyhafte Ratte mit Strohhut, Monokel und Fliege. Tiere übernehmen in der kompletten Reihe die Rolle von Menschen. Wobei es durchaus noch Menschen gibt. Man nennt sie Teignasen. Sie arbeiten vorwiegend als Dienstboten, Bürgerrechte haben sie keine.
Die Kriminalfälle spielen zurzeit von Absinth und Industrialisierung. Das Straßenbild ist geprägt von dampf- und gasgetriebenen Robotern. Am Himmel fliegen Zeppeline. Die Geschichte ist etwas anders verlaufen, als es in unseren Büchern steht. Napoleon hat vor 200 Jahren die Schlacht von Waterloo gewonnen und Britannien unterworfen. Die britische Königsfamilie landete unter der Guillotine. Inzwischen hat das Land aber seine Unabhängigkeit errungen und nennt sich „Sozialistische Republik Britannia“. Eine retro-futuristische Steampunk-Welt mit einer alternativen Zeitachse und veränderten Machtverhältnissen. Ansonsten unterscheidet sich die Gesellschaft kaum von der der Belle Epoque – eine viktorianische Zeit wird es wohl kaum gegeben haben. Vorherrschend sind Intrigen, Korruption und Mord, hin und wieder auch Liebe und Leidenschaft.
Der Brite Bryan Talbot ist als Illustrator und Autor schon lange im Geschäft. Begonnen hat er Ende der 60er Jahre. In den 90ern arbeitete er für DC Comics an „Hellblazer“ und „Batman“. Außerdem war er an mehreren Bänden von Neil Gaimans „Sandman“-Reihe beteiligt. Den ersten Band von „Grandville“ brachte er 2009 heraus. Inzwischen sind es fünf. Der letzte ist rechtzeitig Ende 2018 in der deutschen Übersetzung bei schreiber&leser erschienen.
Talbot bedient sich in „Grandville“ bei vielen anderen Künstlern. Es beginnt beim Titel. Grandville war der Name eines Malers und Karikaturisten aus dem 19. Jahrhundert. Dessen Spezialität: satirische Zeichnungen mit Tiermenschen und Mischwesen.
Die Stories sind ein Cocktail aus James Bond und Sherlock Holmes mit einem Spritzer Jules Vernes. Die Helden sind hart aber herzlich, die Schurken abgebrüht und die Frauen unabhängig und stark. Hin und wieder tauchen alte Bekannte auf – allerdings oft als gebrochene Figuren: ein opiumsüchtiger Terrier, der an Tims Hund Struppi erinnert oder ein völlig betrunkener Paddington Bär. Auch vor Monty-Python-Sketchen macht Talbot nicht Halt. Er mischt offenbar alles, was ihm lieb ist. Und er macht es gut. In „Grandville“ trifft gezeichnetes Hollywood-Kino auf britischen Humor. Die Geschichten sind spannend, die Bilder detailreich und lebendig. Und nicht zuletzt sorgen die kleinen Anspielungen beim Lesen immer wieder für herrliche Momente.
Bryan Talbot / Grandville / 5 Bände / auf Französisch / bei Mylady
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