Thomas Strässle: "Fluchtnovelle"

Thomas Strässle: "Fluchtnovelle"

Rezension

Holger Heimann   16.10.2024 | 11:23 Uhr

Der Literaturwissenschaftler Thomas Strässle ist Professor in Zürich, Juror beim Bachmann-Wettlesen und Präsident der Max-Frisch-Gesellschaft. Nun hat er eine Novelle geschrieben: "Fluchtnovelle". Holger Heimann hat das Buch für SR kultur gelesen.

Um die schwer bewachte Grenze zu überwinden und aus der DDR zu fliehen, haben so verzweifelte wie mutige Menschen viele Wege ersonnen. Sie haben Tunnel gegraben, sind auf die offene See hinausgeschwommen und mit selbstkonstruierten Heißluftballons aufgestiegen. Solche waghalsigen Aktionen, bei denen man sein Leben riskiert, kommen für den jungen Schweizer und die Dresdner Studentin, die sich 1965 in Erfurt getroffen und verliebt haben, nicht infrage. Sie wollen zusammenleben, jedoch nicht in der DDR. Nachdem alle legalen Versuche zur Ausreise gescheitert sind, planen sie die Flucht über Prag. Die Idee, wie es gelingen kann, ist so einfach wie genial:

Man konnte das System nicht unterlaufen, indem man von innen her gegen die Mauer anrannte, die es um sich zog und die zu sichern es jede erdenkliche Anstrengung unternahm. Man musste es aus der entgegengesetzten Richtung angehen: bei der Einreise, nicht bei der Ausreise.

Die Fluchtgeschichte, die der Schweizer Thomas Strässle in Novellenform erzählt und die sich packend wie ein Thriller liest, ist nicht erfunden. Es ist die Geschichte seiner Eltern. Er hat sie aufgeschrieben, „weil es einfach eine gute Geschichte ist“, wie er sagt. Und man darf einzufügen, eine filmreife Story, die gekonnt erzählt wird. Strässle konzentriert sich dabei ganz auf die „unerhörte Begebenheit“, die in diesem Fall eine mehrschichtige Begebenheit ist. In Gang gesetzt wird diese durch Thomas Strässles Vater. Der ist 23, als er seiner 21 Jahre alten ostdeutschen Freundin eine neue Identität besorgt, ja, man muss das so sagen: besorgt – planvoll, Schritt für Schritt mit großer Akribie und enormer Kaltblütigkeit. Thomas Strässle zeichnet das ebenso präzise, doch zugleich nüchtern, ohne auszuschmückendes Beiwerk nach.  

Meine Mutter war in diesen drei Tagen in Prag quasi eine Schweizer Touristin. Sie besaß einen Schweizer Pass. Sie besaß einen Einreisestempel. Sie trug Schweizer Kleider. Sie las den „Spiegel“. In ihren Kleidern, die aus dem Osten waren, waren die Etiketten aus der Schweiz. Also sie war eine absolut fiktionalisierte Figur. Und dieser Gedanke, jemanden noch im Osten umzuwandeln und ganz legal mit ihr in den Westen zu reisen, dieser Gedanke, gegen die Logik des Systems zu denken, den finde ich schon ziemlich genial. Das ist der Gedanke, der mich am meisten interessiert hat. Der hat dann auch eine gewisse Allgemeingültigkeit, wie man mit Systemen, insbesondere mit geschlossenen Systemen umgehen kann.

Die Tage in Prag sind eine Zeit voller Anspannung und Unruhe. Das Paar ist ständig darauf gefasst, entdeckt zu werden. Ein Blitzlicht in einer Kneipe, eine Verwechslung auf dem Flughafen lassen ihnen die Herzen stocken. Thomas Strässle schafft mit wenigen Sätzen einen Raum des Rätselhaften und Bedrohlichen, der – wir sind in Prag – immer wieder an Kafka denken lässt. Den gewissermaßen natürlichen Spannungsgehalt der Geschichte vermag Strässle so noch zu steigern.

Erfunden hat der Autor nichts, er spricht von einer „erzählerischen Rekonstruktion“. Thomas Strässle hat sich jedoch durchaus einige Freiheiten genommen. Er erzählt nicht chronologisch, und er hat sich selbst – als Kind, das häufiger die Großmutter in Karl-Marx-Stadt besucht – in die Geschichte eingeschrieben.

Es ist so, dass ich, der diese Geschichte aufschreibt, keine Außenposition habe. Ich bin quasi das Ergebnis dieser Verbindung. Ich bin der Sohn dieser beiden Personen, die sich da kennengelernt haben. Und ich dachte, ich muss das schon transparent machen, dass das nicht aus einer Drittposition heraus erzählt wird.

Die Novellenform erlaubt es Thomas Strässle, sich ganz auf die Fluchtgeschichte zu konzentrieren. „An allen Ecken und Enden hätte man weitererzählen können“, sagt der Autor – und das denkt zuweilen auch der Leser. Aber Strässle hat sich anders entschieden. Nur angedeutet wird deshalb etwa, dass die beiden Protagonisten nicht nur das Risiko eingehen, entdeckt zu werden. Das Risiko, es nicht miteinander auszuhalten, war für zwei Menschen, die sich kaum kannten, wohl noch größer. Thomas Strässle erzählt nichts davon, wie die junge Ostdeutsche zurechtkam im anderen Land und mit der anderen Gesellschaftsordnung. Am Ende heißt es bloß: „Hier fangen viele neue Geschichten an.“ So ist es. Die von Thomas Strässle aufgeschriebene Fluchtgeschichte jedenfalls ist eine, die man nicht mehr vergisst.

Der SR kultur-Buchtipp:

Thomas Strässle: "Fluchtnovelle"
Suhrkamp Verlag
124 Seiten, 18 Euro
ISBN: 978-3-518-47448-8

Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 15.10.2024 auf SR kultur.

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