Jackie Thomae: "Glück"
Marie-Claire Sturm, kurz MC genannt, ist 39, erfolgreiche Podcasterin und kinderlos. Während ihr Umfeld sie als extrovertierte und selbstbewusste Frau erlebt, sieht es in ihrem Innersten anders aus. Dort nimmt ihre ungewollte Kinderlosigkeit seit einigen Jahren immer mehr Raum ein:
Normalerweise wachte sie auf, als hätte man direkt neben ihrem Kopf einen Gong geschlagen: Ich habe kein Kind. Das war ihr erster Gedanke, klar, deutlich, wahr und jedes Mal so schockierend, dass sie Herzrasen bekam. Sie hatte von Trauernden gelesen, die sich vor dem Aufwachen fürchteten, weil es sich anfühlte, als würden sie jeden Morgen aufs Neue erfahren, dass der geliebte Mensch nicht mehr da war. So war es bei ihr auch. Was, während sie tagsüber ihr Leben lebte, mehr oder weniger laut ein Hintergrundrauschen bildete, wurde ihr morgens als Ohrfeige serviert.
Während das Gefühl immer lauter und nagender wird, läuft MC die Zeit davon – das eröffnet ihr eines Tages ihre Frauenärztin mit dem Kommentar „sie habe nun ein Vierteljahrhundert Zeit gehabt“.
MC ist so eingenommen von dem Thema, dass sie kurz darauf in ihrem Podcast die ebenfalls 39-jährige Politikerin Anahita Martini auf ihre Kinderlosigkeit anspricht: Ein Fauxpas, der auch bei Anahita einiges auslöst.
Die Bildungssenatorin ist die zweite Hauptfigur in Jackie Thomaes Buch. Wie schon in ihrem vorherigen Roman „Brüder“ stellt Thomae also zwei Figuren nebeneinander, die ein Lebensthema teilen und doch auf ganz unterschiedliche Art und Weise davon betroffen sind. Denn im Gegensatz zu MC wird Anahitas Kinderwunsch hauptsächlich von gesellschaftlichen Fragen und ihrer Familie befeuert. Ihre beiden Brüder haben bereits eigene Kinder:
Sie rannte auf die Toilette und hatte den ersten Weinanfall seit Jahren. Bald würde sie die alte, kalte, kinderlose Tante dieser Kinder sein. Vielleicht war sie es jetzt schon. In den Traueranzeigen ihrer Eltern würde unter den Namen ihrer Brüder mit ihren Kindern und deren Müttern nur ihr Name stehen, einsam und kläglich. Immer wieder würde man in der Presse darauf hinweisen, dass sie allein lebte. Es würde erst aufhören, wenn sie ihre Karriere beendete, und dann hätte sie gar nichts mehr. Es ist aussichtslos, dachte sie, als sie an der Klopapierrolle zog, um sich die Nase zu putzen.
Die Lebenswelten von MC und Anahita stehen zwar im Vordergrund des Romans, Jackie Thomae schmückt sie allerdings mit zahlreichen Nebensträngen aus und bildet so auch weitere Facetten des Themas ab. Etwa durch Anahitas Schwägerin Lydia, die ihre drei Kinder zwar liebt, aber mit der typischen Mutterrolle hadert oder durch MCs Freundin Maren, die selbst gewollt kinderlos ist, aber aus dem Thema Profit schlägt: Für eine fünfstellige Summe bietet sie Coachingwochen in Griechenland an mit dem Titel: „Unerfüllter Kinderwunsch – muss auch ich Mutter werden?“.
Im zweiten Teil des Romans, der drei Jahre später spielt, spitzt Jackie Thomae die Frage zu und fantasiert eine Zukunft, in der eine neue Pille die Fruchtbarkeit von Frauen verlängert:
Ich erkläre es gern anhand der Funktionsweise der Verhütungspille. Die unterdrückt den Eisprung. Wir gehen jetzt einen Schritt weiter und verhindern, dass die Eizelle heranreift und einmal pro Zyklus abgestoßen wird. Auf diese Weise erlauben wir der Trägerin praktisch, ihre Eizellen für den richtigen Zeitpunkt aufzusparen. Im Moment greifen mehr und mehr Frauen auf das Einfrieren zurück, mit Ambeth ist dieses Prinzip der Aufbewahrung und damit Zeitgewinnung im eigenen Körper möglich.
Welche Möglichkeiten hält „Ambeth“ für MC und Anahita bereit? Und wie beeinflusst solch ein Medikament den gesellschaftlichen Druck, der auf kinderlosen Frauen lastet? Jackie Thomae hat ein Buch geschrieben, das einen leichten Zugang zu einem fundamentalen Thema ermöglicht, das gleichzeitig zum Lachen und zum Nachdenken bringt – eine gelungene Kombination.
Der SR kultur-Buchtipp:
Jackie Thomae
Claassen Verlag, 429 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-354-6100-465
Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 07.10.2024 auf SR kultur.