Pajtim Statovci: „Bolla“
Vier Romane hat der finnisch-kosovarische Autor Pajtim Statovci veröffentlicht, alle wurden von der Kritik und Lesenden in aller Welt gefeiert. Nun ist sein Roman „Bolla“ auf Deutsch erschienen. Meike Stein hat es gelesen und mit dem Autor gesprochen.
Die Jugoslawienkriege, die Suche nach Identität und Zugehörigkeit, das Überschreiten von Grenzen – diese Themen sind zentral für den jungen finnischen Autor Pajtim Statovci. Im Kosovo als Sohn albanischer Eltern geboren, floh seine Familie nach Finnland, als er zwei Jahre alt war. Mittlerweile ist der erst 34-Jährige Schriftsteller eine etablierte Größe der skandinavischen Literatur – mit seinen psychologisch komplexen Texten voller folkloristischer und mythologischer Anspielungen hat er sich weit über die Grenzen Finnlands hinaus einen Namen gemacht.
In „Bolla“ geht es um ein junges Paar in Pristina, das durch die Jugoslawienkriege jäh getrennt wird: Der 22-jährige Arsim, der von einer Karriere als Schriftsteller träumt, verliebt sich in Miloš, einen Medizinstudenten. Einen Sommer lang leben sie heimlich ihre verbotene Beziehung: Die beiden Männer sind nicht nur schwul, sondern müssten als Angehörige unterschiedlicher Volksgruppen auch Feinde sein, denn Arsim ist Albaner, Miloš hingegen Serbe. Schließlich beendet der Krieg ihre Liaison: Arsim flieht mit seiner Ehefrau und seinen Kindern, Miloš wird Soldat.
In seiner Geschichte geht Pajtim Statovci der Frage auf den Grund, was Arsim umtreibt, einen Mann, der im Exil scheitert, der keinen Zugang zu seinen Emotionen hat, seine Sexualität verheimlicht und ein Leben lebt, dass er so nie wollte.
"Er hat einfach nicht den Luxus, in einer Welt der Akzeptanz zu leben. Und ich denke, es ist wichtig, Geschichten über diejenigen zu schreiben, die diesen Luxus nicht haben, die es nicht schaffen, die verletzt werden und nie heilen, die bitter und traurig bleiben bis zum Ende ihres Lebens. Denn ich denke, dass das Leben oft endet, ohne dass die Träume in Erfüllung gehen, dass es nicht unbedingt eine Wiedergutmachung oder eine Katharsis oder Heilung gibt, die mit Leid und Trauma einhergeht."
Der Roman wechselt zwischen den Perspektiven der beiden Männer, und die nichtlineare Erzählung springt im Zeitraum zwischen 1995 und 2004 hin und her. Miloš‘ Geschichte wird dabei durch fragmentierte Tagebucheinträge erzählt. In lyrischer Sprache und mit großer Komplexität zeigt Statovci zwei Männer, einen Flüchtling und einen Soldaten, die beide zerbrechen. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die Gewalt, die von Arsim ausgeht, der immer wieder vom Opfer zum Täter wird.
Der titelgebende Bolla ist in der albanischen Mythologie eine dämonische Schlange: Dem Volksglauben nach öffnet er nur einmal im Jahr seine Augen und verschlingt dann jeden Menschen, den er sieht.
"Im Roman hat diese Kreatur eine metaphorische Bedeutung, denn die Geschichte handelt von Menschen, die sich ihr ganzes Leben lang fürchten und verstecken. Sie entscheiden sich dafür, im Inneren des Berges zu bleiben, in dem der Bolla wohnt, und versuchen nicht herauszukommen, genau wie der Bolla. Wenn es einem nur einen Tag erlaubt ist, frei zu sein, oder im Fall von Arsim und Miloš, nur einen Sommer lang glücklich zu sein, kann das dann für ein ganzes Leben reichen?"
Im Bezug auf seinen Schreibprozess sagt Statovci, seine Arbeit biete ihm Zugang zu einem weiteren Bewusstsein, es sei ein nahezu dissoziativer Prozess. Das Ergebnis sind oszillierende Texte, gearbeitet in kraftvollen, poetischen Sätzen. “Bolla” verweigert sich dem Heldennarrativ von Vergebung und Stärke durch Leid und nimmt stattdessen mit großer psychologischer Tiefe menschliche Verheerungen in den Blick – in einer beeindruckend schönen, faszinierenden Sprache.
Pajtim Statovci
"Bolla"
Übersetzt aus dem Finnischen von Stefan Moster
Luchterhand Verlag
288 Seiten, 22 Euro
ISBN: 978-3-630-87650-4
Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 07.04.2025 auf SR kultur.