Jonathan Lethem: "Der Fall Brooklyn"

Jonathan Lethem: "Der Fall Brooklyn"

Mario Scalla   09.04.2025 | 18:00 Uhr

Jonathan Lethem ist einer der bekanntesten Schriftsteller der USA. „Der Fall Brooklyn“ ist sein insgesamt 13. Roman, fast alle wurden ins Deutsche übersetzt. Und: Es ist sein insgesamt dritter über den New Yorker Stadtteil Brooklyn, in dem er geboren und aufgewachsen ist. Mario Scalla hat das Buch gelesen.

Der Titel dieses Romans ist wörtlich zu nehmen. Die Hauptfigur, deren Fall hier verhandelt wird, ist der Stadtteil von New York, der notorisch im Schatten Manhattans steht. Unmissverständlich konstatiert der Autor:

Wer in Erinnerung bleiben will, muss in Manhattan protestieren. Nur die Toten kennen Brooklyn.

Ein paar Lebende hat Jonathan Lethem allerdings vorzuweisen, jedoch nicht in herkömmlicher Weise. Die Figuren in diesem Roman unterscheiden sich von denen anderer Romane dadurch, dass der Autor sich nicht sonderlich für sie interessiert. Sie kommen zahlreich vor, treiben sich auf den Straßen herum, bilden Jugendgangs, werden erwachsen, ziehen aus Manhattan nach Brooklyn und bilden eine schwule Subkultur oder sie sind Eingeborene, die ihre Mitbürger drangsalieren. Die Mafia ist auch dabei – schließlich heißt der Roman im Original „Brooklyn Crime Novel“ -, es gibt Tote, die Polizei ist strukturell überfordert und ein paar Jugendliche zersägen aus unbekannten Motiven ein paar Geldmünzen. Aber – alle habe eines gemeinsam: Sie bleiben namenlos und bekommen keine Biographie. Der Grund hierfür wird genannt:

Warum haben die weißen Jungs mit den zerstörten Münzen keine Namen?
Sie brauchen keine.
In diesen Straßen, in dieser Brooklyn Crime Novel, gibt es einfach zu viele von diesen weißen Jungs. Einige werden wieder auftauchen, andere nicht. Das spielt keine Rolle. Bei dieser Ermittlung nehmen wir eine breitere Perspektive ein. Hier kommt ein Tipp: behalten Sie von den weißen Jungs den verhätschelten Jungen und den Sohn des Millionärs im Auge.

Diese breitere Perspektive könnte man Stadtsoziologie mit literarischem Anspruch nennen. Romane über Brooklyn, in denen vorschriftsmäßig Charaktere und ihr Schicksal im Fokus stehen, hat Lethem mit „Motherless Brooklyn“ und „Die Festung der Einsamkeit“ bereits geschrieben. Der Autor geht davon aus, dass Brooklyn eigentlich genauso interessant sein müsste wie das übermächtige Manhattan. Nur ist das eben nicht hinreichend bekannt:

In dieser Geschichte geht es um das, was niemand weiß. Sie spielt an einem Ort, von dem jeder glaubt, dass er ihn kennt. Aber niemand weiß etwas über diesen Ort oder hat jemals etwas gewusst.
Vielleicht übertreibe ich.
Trotzdem macht sich kaum jemand die Mühe zu wissen. Zum Beispiel, dass die Familie von Malcolm X in den Stunden und Tagen nach seiner Ermordung in einem Safe House an der Ecke Dean und Nevins Street versteckt wurde.

Der Preis für diese ungewöhnliche literarische Unternehmung ist allerdings, dass für die Lektüre eine gewisse Geduld nötig ist – jedenfalls bei jenen, die alle fünf Stadtteile New Yorks nicht ohnehin kennen wie ihre Westentasche und wissen, wie die Dean Street, und die Hoyt und Pacific Street aussehen und wer sich dort alles herumtreibt. Die anderen müssen warten, bis sich die vielen kleinen Splitter, die Lethem nimmermüde beibringt, zu Puzzleteilen fügen, die nach etwa einem Drittel des Buches ein Bild dieses Stadtteils ergeben.
Dann allerdings wächst die Vertrautheit mit der Hauptfigur von „Der Fall Brooklyn“ und die Leser werden zu Detektiven, die sich auf den Straßen und in den Hinterzimmern auskennen wie Sherlock Holmes in der Baker Street.


Jonathan Lethem
"Der Fall Brooklyn"
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel
Tropen Verlag
444 Seiten, 26 Euro
ISBN: 978-3608502442


Ein Thema in der Sendung "Literatur im Gespräch das Magazin" am 09.04.2025 auf SR kultur.

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