Annett Gröschner: "Schwebende Lasten"
Hanna Krause erlebt fast das ganze 20. Jahrhundert, mit seinen Kriegen, Diktaturen, Umwälzungen. Sie ist ein Mensch, der Blumen liebt. Die Blumen kommen ihr irgendwann menschlicher vor als die eigene Gattung. Kein Wunder bei all dem, was Hanna zu ertragen hat. Ihre Lasten schweben erst, als sie nicht mehr als Blumenbinderin, sondern als Kranfahrerin arbeitet. In eindringlichen Bildern und schonungslos klarer Sprache erzählt Annett Gröschner von einer Frau, die nicht erst lernen muss, sich durchzubeißen, sie tut es einfach.
Über 80 Jahre dieses schwierigen, ereignisreichen 20. Jahrhunderts erlebt Hanna Krause. Zwei Weltkriege, zwei Diktaturen, zwei Demokratien und vieles mehr. Dabei kommt sie aus ihrer Heimatstadt Magdeburg kaum heraus. An ihre Kindheit hat sie nur verschwommene Erinnerungen, wie durch Milchglas, heißt es. An den Vater, einen Polen, schon gar nicht, denn er verließ die Familie, als sie noch ganz klein war. Die Mutter trifft der Schlag, da ist Hanna gerade mal vier. Und so kommt es, dass sie und ihre ältere Schwester bei ihrer Halbschwester Rose und deren Mann aufwachsen. Dass Autorin Annett Gröschner ihr diesen Namen gegeben hat, ist sicher kein Zufall, sind Rosen doch das Einzige, das Hanna mit ihrer Mutter verbindet:
Den Duft des Rosenparfüms, das ihre Mutter zu jedem besonderen Anlass hinter den Ohrläppchen verrieb, hatte Hanna bis heute in der Nase. Immer wenn dieser Duft am Körper einer Frau an ihr vorüberwehte, stiegen ihr die Tränen hoch. Weinen musste sie nie, die Tränen blieben auf halbem Wege stecken.
Hanna ist nicht zimperlich, stoisch erträgt sie alles, was das Schicksal für sie bereithält, hadert nicht. Schon früh ist sie der kreative Kopf im Blumenladen ihrer Halbschwester Rose. Als Hanna von ihrem ersten Verehrer Karl schwanger wird, heiratet sie ihn und hat bald darauf ihren eigenen Blumenladen. Karl ist ihr Gehilfe, doch das erwirtschaftete Geld muss sie vor ihm verstecken, damit er es nicht in die Kneipe trägt. Alles hängt an Hanna – ein ungewöhnlicher Auftrag bringt da erfreuliche Abwechslung in ihren Laden: Ein Mann bringt ihr die Fotografie eines Blumengemäldes von Ambrosius Bosschaert mit der Bitte, das Bild mit realen Blumen nachzubilden. Weil er sie im Voraus großzügig bezahlt und bei ihrer Blumenbinderehre packt, gibt Hanna ihr Bestes. Aber dann steht der Strauß im Schaufenster, bis er verwelkt ist. Ob es an dem Schild dort gelegen hat, dass er ihn nie abgeholt hat?
Juden sind in diesem Geschäft nicht erwünscht. Der Blockwart hatte es an alle Ladenbetreiber in seinem Gebiet verteilt. Hanna warf es zunächst in die Schublade ihres Ladentischs. Sie hatte so ein Gefühl, dass solche wie der Blockwart, die die Juden für Untermenschen hielten, die gleichen waren, die ihr als Kind „Polackin“ hinterhergerufen und sie verprügelt hatten. Aber ihr Mut schwand, wenn sie den Blockwart quer über die Straße kommen sah oder er mit seinen schweren Stiefeln in den Laden trampelte und drohte, ihr den Gewerbeschein wegnehmen zu lassen.
Jedem Kapitel hat Annett Gröschner ein Detail aus dem Bild Bosschaerts vorangestellt, meist die Beschreibung einer Blumenart, Pfingstrose, Vergißmeinnicht, Ringelblume. Diese kurzen Texte lenken den Blick aufs Detail, auf alles Schöne und Schlichte in dem sonst von Arbeit und Plagen geprägten Alltag: Hanna hält den Laden am Laufen, wird häufig schwanger, erleidet eine Fehlgeburt, dann wieder treibt sie ab, bekommt aber nach dem ersten Sohn noch vier Mädchen. Karl, der einen Job in einer Fabrik gefunden hatte, verliert bei einem Arbeitsunfall ein Bein, und dann kommen die Bomben. Diese nehmen Hanna den Laden und noch viel mehr.
Hanna existierte. Nicht mehr und nicht weniger. Sie hatte versucht, über das Menschsein nachzudenken, war aber zu keinem Ergebnis gekommen, außer dass Blumen ihr menschlicher vorkamen als ihre eigene Gattung. Sie hatte schon lange keine mehr wahrgenommen, seit sie mehr Zeit auf dem Dorf verbrachte als in der Stadt. Dort gab es im Haus keine Zierpflanzen, mit denen sie sprechen konnte. Sie sprach auch wenig mit den Mädchen. Die Kraft reichte nur für das Versorgen mit dem Nötigsten, Reden kostete zu viel Energie. Sie hatte auch Karl nur das Wesentliche erzählt: Kirche, Feuer, Sohn weg, Schwiegermutter tot.
Annett Gröschners Beschreibungen sind eindringlich, klar, erbarmungslos, so wie die Ereignisse selbst. Hanna kämpft sich durch, rappelt sich immer wieder auf – ist es nicht das, was von einer wie Hanna, einer Frau, einer Mutter von dann noch vier Kindern erwartet wird? Annett Gröschner hat mit ihrem Roman „Schwebende Lasten“ all jenen ein Denkmal gesetzt, die nicht lange fragen, sondern einfach tun, was zu tun ist. Schließlich wird Hanna Kranfahrerin, weil nur in Männerberufen gutes Geld zu verdienen ist. Sie genießt den Überblick, steht über den Dingen und ist dennoch Teil des großen Ganzen. „Schwebende Lasten“ – der Titel dieses Jahrhundertromans von Annett Gröschner hätte treffender nicht sein können: Inhaltlich gewichtig, aber schwebend leicht erzählt.
Annett Gröschner
"Schwebende Lasten."
C.H. Beck Verlag
282 Seiten, 26 Euro
ISBN: 978-3-406-82973-4
Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 31.03.2025 auf SR kultur.