Fernando Aramburu: "Der Junge"

Fernando Aramburu: "Der Junge"

Tobias Wenzel   19.02.2025 | 10:51 Uhr

Am 23. Oktober 1980 sind bei einer Gasexplosion in einer Schule im spanischen Ort Ortuella fünfzig fünf- bis sechsjährige Schüler gestorben, außerdem zwei Lehrer und eine Köchin. Ortuella liegt im Baskenland, dort, wo Fernando Aramburu geboren wurde und aufgewachsen ist. Nun hat der Autor ein Buch über den dramatischen Vorfall geschrieben.

Für den heute 66-jährigen Fernando Aramburu, der mit seinem Roman über die ETA, "Patria", international bekannt wurde, lag es auf der Hand, irgendwann auch über die dramatische Gasexplosion in Ortuella zu schreiben.

Jetzt erscheint dieser Roman in deutscher Übersetzung. Tobias Wenzel hat "Der Junge" gelesen und den Autor an seinem langjährigen Wohnort Hannover getroffen.

"Noch waren keine Krankenwagen eingetroffen, und in einem Unterstand neben dem Eingang des Schulgebäudes trat die Tragödie in Gestalt einer wachsenden Ansammlung von Kinderleichen zutage."

1980 sorgt eine Propangasexplosion in einer Grundschule im spanischen Baskenland für eine Tragödie. Dieses reale Ereignis hat Fernando Aramburu zu seinem Roman "Der Junge" inspiriert:

"Das ist eine heikle Sache. Es ist sehr schmerzlich, fünfzig Kinder in einem Dorf zu verlieren. Da kommt man da als berühmter Schriftsteller an, der sein Büchlein schreibt auf Kosten von Schmerzen der anderen. Also diese Rolle wolle ich auf keinen Fall spielen."

Tatsächlich ist Aramburus Roman überhaupt nicht voyeuristisch. Einfühlsam schildert er eine rein fiktive Familie, die ihren Sohn Nuco bei dieser Explosion verloren hat. Jedes Familienmitglied verfolgt eine jeweils andere Strategie, um nicht am Tod Nucos zu zerbrechen. Sein Vater José Miguel blendet die Vergangenheit aus. Nucos Mutter Mariaje versucht zwar auch zu vergessen, wird aber von der Erinnerung an ihren Sohn immer wieder eingeholt.

Auch deshalb, weil ihr Vater, Nucos Großvater Nicasio, so tut, als würde der Junge noch leben. Nicasio spricht nicht nur auf dem Friedhof mit seinem Enkel. Er lässt auch Nucos Kinderzimmer von einer Umzugsfirma ausräumen und in seiner eigenen Wohnung wieder aufbauen und verunsichert damit Mariaje:

"Nicasio kam ihr mit der Geschichte, dass sein Enkelsohn jetzt bei ihm wohnte. Dann hast du ja, was du wolltest. Aber lass José Miguel und mich bitte raus aus deiner Illusion. Die Worte seiner Tochter trafen Nicasio wie ein Schlag mit dem Hammer. Was für eine Illusion, wovon redest du? Da, schau, fass an, hier ist alles so echt wie du und ich."

Man sieht den Großvater, diese grandiose Figur, sofort bildlich vor sich. Nicht etwa, weil Aramburu das alles sprachlich ausschmücken würde. Im Gegenteil schreibt er, entsprechend getreu von Willi Zurbrüggen übersetzt, minimalistisch, mit äußerst sparsamem Einsatz von Adjektiven. Das kommt zwar nicht an die Virtuosität des Minimalisten Jon Fosse heran, regt uns Leser aber trotzdem an, die Beschreibungslücken mit unserer Vorstellungskraft zu füllen.

So sehen wir plastisch wie im Film vor uns, wie Nicasio auf der Straße einen Jungen aufliest, wohl, weil er glaubt, es handle sich um seinen Enkel, und deshalb vorübergehend für einen Kindesentführer gehalten wird. Als störende Fremdkörper wirken dagegen die zehn Einschübe, in denen Aramburu seinen Text personifiziert und sprechen lässt:

"Ich dachte, so eine Technik wäre angebracht, um Leser, Leserinnen daran zu erinnern, dass sie nicht die wahre Wahrheit auf der Hand haben, sondern Literatur. Es geht darum, dass (sich) der Text dessen bewusst ist, dass der als Grundlage für eine Geschichte dient. Und er darf sich einmischen. Er diskutiert mit dem Autor."

Ungeachtet dieser postmodernen Spielerei ist Fernando Aramburu eine rührende Geschichte gelungen. Die Eltern blicken wieder hoffnungsvoll in die Zukunft, weil sie einen erneuten Kinderwunsch hegen, bis ein vom Leser früh erahntes Geheimnis Mariajes zu einer weiteren Tragödie führt.

Dass Aramburu trotzdem noch ein halbwegs versöhnlicher Schluss gelingt, hat auch mit der liebevoll gezeichneten Figur des Großvaters Nicasio und dessen störrischer Realitätsverweigerung zu tun:

"Manchmal bin ich etwas grausam mit meinen Protagonisten. Aber nicht mit dem Großvater, mit Nicasio nicht. Da habe ich ihn respektiert und sogar auf eine Art und Weise geliebt."

"Der Junge" von Fernando Aramburu ist ein insgesamt geglückter Roman über den tragischen Verlust eines Kindes inmitten vieler, den Versuch seiner Angehörigen, wieder zurück ins Leben zu finden, und die Macht der Phantasie.


Fernando Aramburu: "Der Junge"

Rowohlt Buchverlag
Übersetzt aus dem Spanischen von: Willi Zurbrüggen
Erscheinungsdatum: 18.02.2025
ISBN: 978-3-498-00738-6
256 Seiten, 25 Euro


Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 06.01.2025 auf SR kultur.

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