Feridun Zaimoglu: "Sohn ohne Vater"
Immer wieder schon hat sich Feridun Zaimoglu von der Geschichte seiner Familie für das eigene Schreiben inspirieren lassen. So auch für seinen neuen Roman „Sohn ohne Vater“, die Geschichte einer Familie zwischen Deutschland und der Türkei, die konfrontiert ist mit einer existentiellen Erfahrung – mit dem Tod des Vaters. Feridun Zaimoglus Erzähler – wie er selbst Schriftsteller – muss aus diesem Grund die weite Reise zum Grab des Vaters antreten. Die Fahrt in die Türkei wird zum Anlass für eine intensive Rückschau auf die Familiengeschichte. Niels Beintker hat mit Feridun Zaimoglu gesprochen.
Ohne ein Mobiltelefon würde hier gar nichts funktionieren. Immer wieder vibriert und klingelt es – und überhaupt wird das das Erzählen mit einem Anruf, in aller Frühe, in Gang gesetzt. Eine Mutter ruft ihren Sohn im fernen Deutschland an. Sie teilt ihm mit, dass sein Vater gestorben und „zum Gerechten geschritten“ sei. Viele weitere Telefonate der beiden folgen, der Sohn siezt seine Mutter beständig und verheimlicht ihr lange, dass er sich, nun vaterlos, auf den Weg gemacht hat, zu ihr und zum Grab. Feridun Zaimoglu hat die eigene Familiengeschichte zum Ausgangspunkt für seinen Roman gemacht. Auch er ist ein Sohn ohne Vater geworden.
" Es wäre für mich äußerst langweilig, wenn ich mich begreifen würde als Vollzugsorgan der Wirklichkeit, meiner Wirklichkeit. Immer dann, wenn ich mit meiner Biographie und meiner Wirklichkeit brechen kann – das ist überhaupt ein zweifelhafter Ausdruck, habe ich Lust, mich hinzusetzen und zu schreiben. Es wäre für mich überhaupt nicht inspirierend, eine Eins-zu-Eins-Wiedergabe zu versuchen der Erlebnisse und Ereignisse."
Der Ich-Erzähler im Roman von Feridun Zaimolgu teilt einiges mit seinem Erfinder. Wie der Schriftsteller ist er, der sich einmal als Ferdinand vorstellt, unter anderem in München aufgewachsen, als Kind türkischer Eltern, die, versehen mit dem wenig schönen Etikett „Gastarbeiter“ in den 1960er Jahren, nach Deutschland kamen. Er hat eine Schwester. Ebenso hat er Medizin studiert und ist dann zur Literatur gekommen, in der Gegenwart des Romans lebt er, mit eigenen Worten: ein Schreiberling, in einer Stadt in Norddeutschland. Jetzt ist er, wie Feridun Zaimoglu, konfrontiert mit einer existentiellen Zäsur. Nichts ist mehr, wie es war.
Was soll ich tun? Meine Schuhe stehen unter dem Tisch. Soll ich sie anziehen? Es schickt sich nicht, in bloßen Wollsocken dazusitzen, wenn man seines Vaters gedenkt. Zu dieser Stunde wird das Totengebet gesprochen. Mein Vater in drei Leintücher gehüllt in der Holzkiste. Mein in Kampferöl gesalbter Vater. Die Holzkiste auf der Totenbahre vor dem Gotteshaus. Das Totengebet im Stehen. Die Grablegung meines Vaters im Leichengewand. Das Grab möge ihm weit sein. Er ist zum Gerechten geschritten.
Der Tod des Vaters führt den Sohn im Roman auch zu einem logistischen Problem: Er leidet massiv unter Flugangst, folglich ist nicht an eine schnelle Reise zum Grab und zur Mutter zu denken. Zaimoglus Erzähler muss die Strecke in einem Wohnmobil zurücklegen, fast 3.000 Kilometer in eine Richtung. Zwei Bekannte aus Dortmund, die Brüder Aras und Tan helfen dem Trauernden. Er borgt sich dafür 15.000 Euro, Aras organisiert, Tan fährt ihn quer durch Mittel- und Osteuropa, nicht nur dank eines nur als Farbkopie vorliegenden Fahrzeugscheins gestaltet sich die Tour als herausfordernd. Sie wird – kaum überraschend – zur immer wieder berührenden Rückschau, zur Geschichte einer Familie aus Deutschland.
" Es ist eine, so könnte man sagen, seltsame Familie. Es ist aber auch eine Familie – Mutter, Vater, Tochter, Sohn –, die überhaupt erst zu ihrer Geschichte in Deutschland findet. Das sage ich für mich, aber auch für meinen Vater, meine Mutter, meine Schwester: Es ist eine Familie, die bereichernd wurde durch Deutschland. Man kann es lesen als eine Fabel der Fremdheit. Man kann es aber auch lesen als eine Geschichte von vier Menschen, die überhaupt erst in Deutschland zu dem werden konnten, was sie geworden sind und was sie auch glücklich gemacht hat."
Feridun Zaimoglu erzählt die Geschichte der Reise zum Grab, und mit ihr verbunden die Geschichte einer Familie, nicht ohne Augenzwinkern. Trotzdem überwiegt ein melancholischer Grundton. Manche der Szenen sind besonders einprägsam, etwa die, wenn sich der Ich-Erzähler an die Kindertage im Münchner Stadtteil Moosach erinnert – und an die aus Erbsenpüree geformten Spielzeugfiguren, die er, in Ermangelung von Freunden, mit in den Hort nahm, als stille Begleiter. Je näher der Trauernde zum Grab des Vaters kommt, desto fremder wird dieser ihm – irgendwann fragt sich der Sohn, was er überhaupt weiß vom Vater. Die Mutter wiederum, lange ausschließlich am Telefon präsent, tritt mehr und mehr in das Zentrum. Am Ende wird sie selbst zur Erzählerin, ein spannender Kipppunkt.
" Sie verweist auch darauf, dass sie nicht als eine Figur vorkommen darf. Sondern sie wird stärker und stärker. Ich habe mir gedacht, es darf jetzt nicht nur so sein, dass wir alles gewissermaßen durch die Augen des Sohnes sehen. Es scheint so, als würde er eine Geschichte erzählen. Aber die Mutter ist es auch, die immer wieder diese Perspektive aufbricht und mit ihrer Sicht vorkommt, die vielleicht näher an den tatsächlichen Verhältnissen ist als der Blick des Sohnes."
Etliche Zufälle bestimmen den Weg des Trauernden und damit auch Feridun Zaimoglus Roman „Sohn ohne Vater“. Am Ende muss der Reisende eher als geplant zurück nach Deutschland, mit dem Begleiter Tan und im Wohnmobil, noch einmal der ganze lange Weg. Wie der sich gestalten mag, lässt Feridun Zaimoglu offen. Der Ich-Erzähler bricht in aller Herrgottsfrühe auf, am Frühstückstisch weint er still, die Mutter tut es ihm gleich. Ein kleines Bild, das man beinahe übergehen kann. Sollte man aber nicht. In diesem und vielen anderen intimen und unspektakulär geschilderten Momenten zeigt sich die Tiefe von Feridun Zaimoglus Prosa.
Feridun Zaimoglu
"Sohn ohne Vater"
Verlag Kiepenheuer & Witsch
288 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-462-00588-2
Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 13.02.2025 auf SR kultur.