Najem Wali: "Gefährdete Stimmen einer Welt in Gefahr"
Der irakische Schriftsteller Najem Wali, der selbst seit 1980 im Exil in Deutschland lebt, hat Texte von verfolgten und exilierten Autorinnen und Autoren aus vier Kontinenten gesammelt. Für das 25-jährigen Jubiläum des Writers-in-Exile-Programms ist die Anthologie nun erschienen. Stefan Berkholz hat die Sammlung gelesen.
Eine Halbblinde bin ich. Gleichmäßig verteilt sind meine Ängste auf Licht und Dunkelheit…
Asli Erdogan, „Der Abend der Wörter“.
An verschatteten Mauern taste ich mich entlang, zwischen kaum wahrnehmbaren Reflexionen. In einer eilig aufs Papier geworfenen, gleich wieder verworfenen Entwurfs-Welt. Lasse mich von der Absenz verführen, vom ersten Wort an zu schwindeln, krieche über die Blätter Papier, die nackt sind wie gepflügte Erde und warten. Im Strom noch nicht entstandener »Ichs«.
Asli Erdogan verfasst leidensgetränkte, poetische, filigrane Texte, sie gibt ihrer Verlorenheit in der Welt eine Stimme, fasst Alpträume in Worte, bannt Gespenster der Verfolgung. Die 57-jährige Schriftstellerin ist in der Türkei verfolgt worden, sie wurde gefoltert, inhaftiert, seit Jahren lebt sie in Deutschland, im Exil. Erdogan wirkt wie ein Symbol für das Unglück von Vertriebenen. Dagegen setzt der Herausgeber Najem Wali hoffnungsvolle Zeichen, wenn er sich im Vorwort über „Freiheit und Exil“ Gedanken macht. Im Interview sagt Wali:
"Exil ist eine Übung. Nach so langer Zeit … habe ich Vieles erlebt, und ich fürchte weniger. … Dieser Geist des Widerstands kommt daher. Dank des Exils gibt es diese Freiheit. Und für mich sind Literatur und das Schreiben Freiheit. Wenn ich so das Exil betrachte, dann ist Exil positiv, nicht negativ."
Najem Wali ist 1980 aus dem Irak vor Saddam Hussein und dessen Folterknechten geflüchtet. In Hamburg hat der Schriftsteller deutsche Literatur studiert und sich auf das Thema „Exilliteratur“ spezialisiert. Die Anthologie hat er in drei Kapitel unterteilt: „Ein Blick in die Heimat“; „Weg ins Exil“; und das längste Kapitel, mehr als einhundert Seiten lang: „Beheimatet im Exil“. Darin kommt der 26-jährige Iraker Mubeen Kishany zu Wort, der nach Todesdrohungen floh und seit 2023 als Stipendiat des Writers-in-Exile-Programms in Deutschland lebt.
Ein jeder von uns hat den Tod öfter gesehen, als ihm lieb war, ein jeder von uns war auf dem Weg zu ihm. Ein jeder von uns hat Krieg erlebt und das Leben im Aufblitzen eines Geschosses enden gesehen, ein jeder von uns hat in einem Grab aufgehört zu wachsen und sich mit ihm für den Rest seiner Tage fortbewegt.
„Gefährdete Stimmen einer Welt in Gefahr“, so lautet der Titel dieser Anthologie mit Stimmen von Exil-Schriftstellern in Deutschland. Ein Ausschnitt aus dem preisgekrönten Buch von Swetlana Alexijewitsch aus Belarus, „Secondhand-Zeit. Das Ende des roten Menschen“ von 2013, eröffnet dieses Buch. Darin versteht man etwas mehr vom tief sitzenden Fatalismus, dieser Verstörung vieler Menschen Russlands. Seit vier Jahren lebt die Literaturnobelpreisträgerin von 2015 im Exil in Berlin. Fünf Texte aus dem Iran sind zum Abdruck gekommen, vier Texte aus der Türkei, drei aus der Ukraine, viele Gedichte sind dabei. Auch eines vom Lyriker Enoh Meyomesse, 1954 in Kamerun geboren, 2011 inhaftiert, 2015 dank internationaler Hilfe vorzeitig entlassen, seitdem in Deutschland lebend.
ich komme zu dir Deutschland
meine schritte haben mich zu dir geführt
lass in deinen adern
in reißendem schwall
mein blut aus tränen fließen
das wieder leben will
ich komme mit meinem atem
ich komme mit meinem herzen
ich komme mit meinem kummer
ich komme mit meinem schmerz
ich komme auch mit meiner freude
ich komme auch mit meiner hoffnung
mit meinem ganzen leben komme ich
ich komme zu dir Deutschland
meine schritte haben mich zu dir geführt
oh vielgeliebtes land
nimm mich auf
denn du bist freiheitsland
Najem Wali bringt in dieser Anthologie Flüchtlinge zu Gehör, die zunehmend bedroht sind in einem Europa, das immer weiter nach rechts rückt und gegen Fremde Politik macht. In diesem Buch kann das Leid und die Verlorenheit von Vertriebenen vernommen werden.
Najem Wali
„25 Jahre Writers in Exile. Gefährdete Stimmen einer Welt in Gefahr“
Secession Verlag, 240 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-3-96639-092-7
Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 20.01.2025 auf SR kultur.