Ljudmila Ulitzkaja und Andréj Krassúlin: "Fragmente eines Ganzen“

Ljudmila Ulitzkaja und Andrej Krassulin: "Fragmente eines Ganzen"

Tobias Wenzel   30.12.2024 | 18:00 Uhr

In diesem Frühjahr hat das russische Regime Ljudmila Ulitzkaja als „ausländische Agentin“ eingestuft. Dabei ist sie einfach nur eine mutige Autorin, die sagt, was sie denkt, und deshalb nun mit ihrem Mann, dem bildenden Künstler Andréj Krassúlin, im Exil in Deutschland leben muss. Nun haben die beiden ein gemeinsames Buch veröffentlicht. „Fragmente eines Ganzen“ enthält Texte von Ulitzkaja und Abbildungen von Krassúlins Kunst. Tobias Wenzel hat das Ehepaar in Berlin getroffen.

„Ich kann kaum entziffern, was da steht.“

Ljudmila Ulitzkaja betrachtet in der Galerie Volker Diehl in Berlin eines ihrer Manuskripte. Darauf hat ihr Mann Andrej Krassulin eine abstrakte, grau gefleckte Grafik gedruckt. Die Kunst der beiden ist hier unzertrennlich wie das Paar selbst. Seit 44 Jahren leben sie symbiotisch zusammen. Den wechselseitigen künstlerischen Einfluss belegt ihr gemeinsames Buch „Fragmente eines Ganzen“.  Von Krassulin habe sie gelernt, die Welt mit seinem Blick für das scheinbar Nebensächliche zu sehen, schreibt Ulitzkaja im Buch über ihren wortkargen Mann.

„Andrej ist ein Meister der Schweigens. Sein Schweigen ist immer bedeutungsvoll. Das weiß ich zu schätzen.“
"Meine Großmutter sagte: "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold."“

Erzählt Krassulin, der seine Frau in der Galerie oft zum Lachen bringt. Man spürt die Harmonie zwischen den beiden.

Nur die Liebe duldet keine Lügen,
Braucht kein Geschwätz und keine Schwüre
Und fordert keinen Lohn dafür.

Heißt es in einem Gedicht Ulitzkajas im schön gestalteten Buch. Davor hat sie noch nie ihre Lyrik veröffentlicht, weil sie ihr zu privat erschienen war, nämlich nur für ihren Mann bestimmt.

Was Ohnmacht ist? Unwissenden ein Wink.
Doch du und ich, die schon die Bürde tragen,
die Kehrseite des Daseins zu erahnen,
wir mühen uns ein Leben lang damit,
verzwickte Schlingen zu entwirren,
Zwar ohne Hast, doch stets im Wissen,
dass uns nur eine kurze Frist gegeben,
Bis uns der Strudel eines Abflussgullys
hinwegspült in den Friedhofsschlamm.

Dass sie einmal in Moskau im Grab der Familie Ulitzkaja beigesetzt werden, für das Krassulin den Grabstein gestaltet hat, daran glauben beide nicht mehr. Denn zur Sicherheit leben sie im Exil, weil Ulitzkaja Putins Krieg gegen die Ukraine öffentlich als „Schande“ bezeichnet hat. Fragt sich, ob das Ehepaar nicht auch hier in Berlin Angst vorm langen Arm Moskaus hat. Schließlich sind Regimekritiker schon im Ausland vergiftet worden.

„Das freut uns nicht.“
„Angst ist ja ein physiologisches Gefühl, das man nicht verhindern kann. Die entscheidende Frage ist, wie ein Mensch mit der Angst umgeht, wie er sie bekämpft und wie er sie in ein Gefühl der Freiheit und Unabhängigkeit überführt.“

In der Galerie deutet die Autorin auf eine Bronze-Skulptur Krassulins, die auch im Buch abgebildet ist. Man erkennt einen Mann ohne Beine im Rollstuhl.

„Diese Skulptur eines Invaliden hier sollte im Zentrum Moskaus stehen. Denn in praktisch jeder russischen Familie gibt es einen Invaliden. Überall stehen Denkmäler für Kriegshelden. Aber das wichtigste Kriegsdenkmal ist der überlebende Invalide.“
Krieg ist dumm, grauenvoll und ein Verbrechen.

Schreibt Ulitzkaja in „Fragmente eines Ganzen“, diesem berührenden und nachdenklich stimmenden Buch, über Invaliden.

„Unserer liebes Land lässt uns das Thema der Invaliden nicht vergessen.“

Eine Anspielung auf den Ukraine-Krieg. Ihre mutige Kritik dran wurde für sie selbst zur Gefahr. Im März 2022 packten Ulitzkaja und Krassulin schnell die wichtigsten Sachen und verließen Moskau sofort Richtung Deutschland:

„Wir sind hier auf unserer Datscha angekommen.“ 

Das notgedrungene Berliner Exil als Datscha-Ausflug – kein Wunder, dass Ljudmila Ulitzkaja fasziniert ist vom ganz eigenen Blick ihres Mannes.

Ljudmila Ulitzkaja und Andrej Krassulin
"Fragmente eines Ganzen"

Verlag Ciconia Ciconia, 216 Seiten, 30 Euro
ISBN: 9783945867686

Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 30.12.2024 auf SR kultur.

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