Christmas Broadcast
Eine Weihnachtsgeschichte von Autor und Literaturkritiker Moritz Klein
An einem Nachmittag im Winter verlasse ich das Rundfunkgebäude durch die Glastür am Haupteingang. Für einen Augenblick, bevor die Tür sich automatisch öffnet, sehe ich durch ihre orange getönten Glasscheiben nach draußen. Ich habe das schon oft gesehen, aber an diesem Tag liegt Schnee auf allem. Und beim Anblick dieser orange gefärbten Schneelandschaft bin ich plötzlich eine Lego-Figur aus dem Jahr 1993: ein Astronaut, der aus dem Cockpit seines Raumschiffs auf die gleißende Oberfläche des Eisplaneten blickt.
An Heiligabend 1993 fand ich dieses Raumschiff unterm Weihnachtsbaum. „Ice Planet 2002“ hieß eine Lego-Reihe, die ’93 auf den Markt gekommen war. Ihr Thema war eine Forschungsmission auf einem fernen Eisplaneten, und ihr optisches Markenzeichen war ein transparentes Neon-Orange, in dem die Fensterscheiben und Satellitenschüsseln der Raumschiffe leuchteten und die Helmvisiere, die die Augen der Astronautenfigürchen vor der außerirdischen Strahlung des Eisplaneten schützten. Ich war acht Jahre alt. „2002“ war die Zukunft.
In der Kindheit war der Weltraum die reine Faszination. So tief und schwarz, die unvorstellbare Unendlichkeit, unfassbar wie der Gedanke, dass ich irgendwann tot sein würde, und beglückend in seiner gleißenden Fremdartigkeit. Ein ästhetischer Raum zweckfreien Wissens und Staunens.
Über die Hintergründe und Voraussetzungen der realen Raumfahrt wusste ich wenig. Nie hätte ich mit dieser erhabenen Sphäre Motive wie eine Konkurrenz zwischen Staaten in Verbindung gebracht. Aber es war letztlich derselbe Wissensdrang, der mich über die Jahre und Jahrzehnte aus der Reinheit des Wunderns verbannte. Alle ästhetischen Anderswelten meiner Imagination wurden nach und nach kolonisiert von der Welt, die ich zunächst immer nur fetzenweise und verständnislos vernommen hatte, wenn meine Eltern die Tagesschausahen. „Bonn ... Bundeskanzler Kohl“, „Washington … US-Präsident Clinton“, „Sarajevo … die bosnischen Serben“. Mein selbstgenügsames Wissen über Dinosaurier und Urzeitwesen wurde verdrängt vom Wissen um eine ganz andere Art von Fossilien, nach denen viel tiefer und umfassender gegraben wurde und deren Verbrennung meine Alltagswelt in Gang hielt, die Konkurrenz der Staaten weiter anheizte – und das Erdklima. Diese Fossilien lieferten auch den Treibstoff für die Raumfahrt. Keine erhabene ästhetische Sphäre dort oben, nur eine Erweiterung irdischer Machtbereiche, und das Schweben in der Schwerelosigkeit so abhängig vom Erdöl wie unsere Fahrten im Familienkombi. Selbst meine Lego-Raumschiffe bestanden aus erdölbasierten Kunststoffen.
Damit hatte ich eine Umkehr der Blickrichtung nachvollzogen – hinaus ins All und von dort aus zurück zur Erde –, für die kulturgeschichtlich bereits eines der frühesten Bilder aus dem Weltraum steht: das Foto „Earthrise“, aufgenommen von der Apollo-8-Mission aus dem Mondorbit an Heiligabend 1968. Die Erde, die im schwarzen Himmel über der öden Mondoberfläche aufgeht. Das Bild gilt als der symbolische Gründungsmoment der Umweltbewegung: eine kleine blaue Kugel, umgeben von schwarzem Nichts, eine Oase in der unermesslichen Wüste des Alls. Ein Viertel der Weltbevölkerung soll damals die Live-Übertragung dieser ersten Mondumrundung gesehen haben. Die drei Astronauten lasen als Weihnachtsbotschaft aus der biblischen Schöpfungsgeschichte vor. Ein halbes Jahr später landete dann erstmals eine US-Mission auf dem Mond. Mein Vater sah die Mondlandung als Zwölfjähriger. Und weniger als eine Lebensspanne reichte, um zu vergessen, dass dieses Ereignis damals von vielen nicht als Anfang, sondern als Ende der Raumfahrtutopie erlebt wurde, als kollektive Ernüchterung: Da hatte man die Arbeitsleistung von Hunderttausenden und Unmengen von Treibstoff in die Atmosphäre geblasen, nur um ein bisschen über totes Mondgestein zu hüpfen. Und auf der Erde noch immer Hunger, Armut, Krieg und Leiden, noch immer kein gutes Leben für alle. Und wenn die Erde unbewohnbar wurde, gab es keinen erreichbaren zweiten Planeten.
Den gibt es noch immer nicht. Aber auch das Gerät wieder in Vergessenheit. Die Raumfahrt-Visionen der Tech-Milliardäre, die heute den Orbit beherrschen, handeln von der Kolonisierung des Mars und Künstlichen Paradiesen in Raumstationen. Ihr Weltraum ist ein Ideenhimmel, in dem kein demokratisches Gleichheitsversprechen mehr die freie Expansion des Unternehmergeists beschwert. Die Erde liefert dafür noch den Treibstoff, bis die Rohstoffminen auf anderen Planeten tragen, dann hat der Altplanet ausgedient. Vielleicht sind die „disruptiven“ Visionen aber auch nur PR-Feuerwerk, denn das wirkliche Geschäft im All ist doch eher das althergebrachte mit Militäraufträgen und Überwachung.
Was für ein Planet in Blutorange ist das dort draußen hinter den Türglasscheiben? Die Marskolonie mit ihren eugenischen Zuchtstationen? Oder die Erde der Zukunft mit ihren Bunkern unter dem brennenden Himmel voll Kohlendioxid und Methan? Aber es liegt Schnee dort draußen. In der Ferne sehen wir Herden rückgezüchteter Wollhaarmammuts ziehen, ein durch privates Risikokapital gesponsertes Wunder. Dann gleitet die Tür auf, das Blickfeld wird weiß, eisige Luft schlägt uns entgegen, und hell lesen wir am Nebelhimmel, wie dick die Wintertage sind auf dieser kalten Erde.
Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 24.12.2024 auf SR kultur.