Patrick Modiano: "Memory Lane"
2014 erhielt der französische Schriftsteller Patrick Modiano den Nobelpreis für Literatur. Nun veröffentlicht der Züricher Kampa Verlag seinen Roman "Memory Lane", der in Frankreich bereits 1981 erschienen ist. Peter Henning hat das Buch gelesen.
Es sind literarische Tauchfahrten durch ein mit Worten immer neu beschworenes Paris der vierziger und fünfziger Jahre, zu welchen uns der französische Schriftsteller Patrick Modiano mit schöner Regelmäßigkeit einlädt. Er inszeniert sie am Beispiel unversehens aus der Historie wieder auftauchender Gestalten deren Geschichten er uns im Zuge seiner poetischen Séancen anvertraut.
Auch in seinem kleinen, erst jetzt ins Deutsche übertragenen Roman „Memory Lane“, dessen Titel darauf anspielt, “dass man Zeit damit verbringen sollte, über die Vergangenheit nachzudenken und sich an sie zu erinnern”, versetzt Modiano uns in eine Atmosphäre des Rätsels und des Ungefähren. Und alles, was sein unvergleichliches Werk als Ganzes ausmacht, ist hier bereits präsent: der süchtig machende Sound seiner Sätze - und auch die unverwechselbare poetische Schönheit seiner der Vergangenheit abgelauschten Bilder.
So macht er uns auch im vorliegenden Roman zu staunenden Zeugen der weit in die Vergangenheit zurückreichen Tast- und Erklärungsversuche seines Ich- Erzählers Jean, der uns in der Rückschau mit einem von ihm sogenannten „Grüppchen“ ungleicher Freunde bekannt macht.
Der Nebel, der sie alle nach fünfzehn Jahren umhüllt, reißt manchmal auf. Paul Contour: sein Leichtsinn, aber auch sein Gesicht, das mir zerfurcht schien in der Sonne von Antibes. Maddy: ihre Augen, in denen Fjorde aufblitzen, und ihr Lächeln. Bourdin: Er trug oft eine Seglermütze, hatte eine Pfeife im Mund, und es ging einem zu Herzen, dass er aussehen wollte wie ein Südsee-Kapitän….Winegrains allzu angespannte Fröhlichkeit, seine ständig hinaus posaunten dummen Wetten, seine Leidenschaft für gefährliche Sportarten…Schließlich Doug, mit dem roten pockennarbigen Gesicht, immer vom einen zum anderen pendelnd, immer in Nebenrollen oder „Memory Lane“ singend.
Aus der zeitlichen Distanz von fünfzehn Jahren zu den im Buch geschilderten Ereignissen erinnert Jean sich an das „Grüppchen“ – und an ihre wiederkehrenden Zusammenkünfte. Und anfangs ist er, der in einem Musikverlag nahe den Champs-Élysées arbeitet, von dem Treiben um das elegante Ehepaar Maddy und Paul und dessen kapriziösen Freunden fasziniert. Doch schon bald konzentriert sich sein Interesse auf Maddy, in die er sich verliebt, obgleich er insgeheim weiß, dass eine solche Liebe keine Zukunft hat. Entsprechend bilanziert er im Rückblick:
Wenn ich heute etwas bereue, dann, dass ich sie nicht geheiratet habe – ich träumte davon, wagte aber nicht, ihr das zu sagen, denn ich dachte, Paul würde nicht einwilligen in die Scheidung. Der Altersunterschied? Was heißt schon, Altersunterschied? Madeleine und ich wären ein schönes Paar gewesen. Pech.
So bleibt in „Memory Lane“ bis zuletzt alles in der Schwebe - versetzt in ein Klima gekonnt inszenierter poetischer Unschärfe. Denn Modiano arrangiert seine Geschichte als lose Folge kurz aneinander gefügter Portraits und Polaroids von Menschen, die sich bald wieder voneinander lösen.
Zug um Zug und oft nur in Andeutungen offenbart er uns Bruchstücke ihrer hochfahrenden Ideen. Denn sie alle fantasieren wortreich von einem anderen, weniger in Gewohnheit erstarrten Leben – fernab von Paris. Und lange hört Jean ihnen interessiert dabei zu, ohne wirklich ein Teil der Gruppe zu werden. Bis er am Ende eines letzten gemeinsamen Sommers aus dem Gesamtbild heraustritt - und Modiano uns mit einer ganzen Reihe ungeklärter Fragen zurücklässt.
Was bleibt, ist der Zauber ungelöster Rätsel - wie stets in den Büchern dieses ins Erinnern vernarrten Meisters der rückwärtsgewandten poetischen Beschwörung. Unterlegt von Jeans Erinnerungen an „Memory Lane“, das von Modiano dazu passend erdachte Lied, das dem Buch seinen wunderbar wehmütigen Ton verleiht und von Pferden erzählt …
…die man im Morgengrauen dahin traben sieht und die niemals wieder kehren.
Patrick Moriano
"Memory Lane"
Kampa Verlag, 122 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-3-311-10144-4
Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 18.11.2024 auf SR kultur.