Francesca Maria Benvenuto: „Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer“

Francesca Maria Benvenuto: „Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer“

Holger Heimann   11.11.2024 | 18:00 Uhr

Francesca Maria Benvenuto wurde 1986 in Neapel geboren und arbeitet heute als Anwältin in Paris. Ihr erster Roman „Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer“ erzählt von einem jungen Kriminellen, der auf einer Gefängnisinsel bei Neapel seine Strafe absitzt. Holger Heimann hat das Buch gelesen.

Vor allem wäre ich gern als Baby auf die Welt gekommen.

Der zentrale Satz steht am Ende von Zenos Bericht. Der 15jährige sitzt seit über einem Jahr im Jugendgefängnis auf der Insel Nisida vor Neapel ein. Er hat einen anderen Jungen erschossen, um nicht selbst umgebracht zu werden. Ein Kind zu sein, dazu hatte der Junge keine Gelegenheit. Er wächst in einem der berüchtigten Quartiere von Neapel heran.

Die Camorra ist so präsent wie die Armut. Das kleine Haus, in dem er mit seinen Eltern und der Schwester wohnt, hat nur eine Tür, aber keine Fenster. Die Familie schläft in einem Bett. Als der kriminelle und gewalttätige Vater im Gefängnis landet, prostituiert sich die Mutter, um etwas Geld zu verdienen. Zeno wird erst zum Kleinkriminellen, dann zum Dealer.

Mit dem Klauen angefangen hab ich, da war ich zehn. Ich weiß, das haut euch jetzt um, Professoressa, aber so war das, das ist einfach die Wahrheit.
Klauen konnt ich gut. Ich hab Autos, Räder, Felgen, Radios geklaut. Wohnungen hab ich aber nie geknackt, das war nicht mein Gebiet. Wie ich dann ein bisschen älter war, hab ich auch Raubüberfälle mit der Knarre gemacht.
Was ihr in einem Monat kriegt, hab ich draußen in zwei Tagen verdient. Wenn überhaupt.
Also, wenn die Mathematik zu irgendwas taugen soll, dann könnt ihr ganz beruhigt sein: die Verbrechen haben sich gelohnt!
Und wie.

Die „Professoressa“ ist die Italienisch-Lehrerin im Gefängnis. Die engagierte Frau, die in Zeno einen neugierigen und begabten Jungen sieht, hat ihn dazu ermutigt, seine Geschichte aufzuschreiben. Der Roman von Francesca Maria Benvenuto – das ist sein Bericht, den er zwischen dem 23. Oktober und dem 23. Dezember 1991 verfasst.

Es ist ein rauer Text, nah an der mündlichen Sprache und am Jugendslang, voller grammatikalischer und orthografischer Fehler. Aber gerade weil der Roman die jugendliche, eingeschränkte Perspektive bis kurz vor dem Ende nie verlässt, gelingt Benvenuto ein lebendiges, intensives Porträt eines vorgezeichneten, beschädigten Lebens. Dieser Ausweglosigkeit ist sich Zeno bewusst.

Mit meiner Vergangenheit kann die Zukunft gar nicht das Beste sein, was je in meinem Leben passiert.
Die fürchten mich hier alle, weil ich hab eine tadellose Vergangenheit und einen kaltgemacht, alle glauben nämlich, dann kann ich kaltmachen, wen ich will. Auch hier drinnen. Die glauben, ich kenn kein Mitleid. Mit keinem.
Wenn ich mit der Knarre rumgelaufen bin, dann hat das seinen Grund gehabt.

Zeno gibt nicht nur Einblick in sein Leben vor der Haft, er erzählt auch vom Gefängnisalltag, von Wärtern und von anderen Insassen. Da ist der schwule Corrado, der von seiner Mutter angezeigt wurde, damit er hinter Gittern vor seinem Vater sicher ist, dem Chef der Camorra. Da ist Marietto, den man auf der Straße gefunden hat, und der gern im Gefängnis sitzt, weil er hier einen Schlafplatz und zu essen hat. Da ist der kluge Gaetano, der einem Mord auf sich genommen hat, weil seine bitterarme Familie dafür Geld vom tatsächlichen Täter bekommt.

Die drastischen Lebensgeschichten sind alle von erschreckender Folgerichtigkeit. Der nüchtern-sachliche Erzählton verstärkt deren emotionale Wucht. Mit einigen der Jungen ist Zeno befreundet, vor anderen ist er auf der Hut. Er weiß, dass er seinen Platz in der Gefängnishierarchie verteidigen muss.

Die tun gut dran, dass sie Angst haben.
Wenn ich könnt, würd ich denen allen in die Fresse schießen.

Schwäche kann sich Zeno nicht leisten. Das hat er schon draußen gelernt und so verinnerlicht, dass auch sein Bericht vom Rollenverständnis des harten Kerls geprägt ist. Nur manchmal wird diese zur Schau gestellte Kaltschnäuzigkeit durchbrochen.

Ich bin hart drauf.
Aber nicht innen drinnen.
Ich bin außen schlimm und kriminell, weil ich viel Schlimmes gemacht hab.
Aber das ist nur außen, ich weiß nicht, ob das so klar ist, wenn ihrs nicht versteht, kann ichs auch nochmal schreiben. Eigentlich bin ich nicht das, was ich gemacht hab.
Aber das auch.

In einer kurzen Anmerkung betont die Autorin den fiktionalen Charakter ihres Romans, weist jedoch zugleich darauf hin: „Manches ist aber auch tatsächlich so, und das sollte man im Hinterkopf behalten.“ Die Personen sind erfunden, die Verhältnisse sind es nicht. Sie lassen Menschen wie Zeno keine Chance. Das legt dieser kluge und erschütternde Roman eindringlich nah.

Francesca Maria Benvenuto
„Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer“

Verlag Antje Kunstmann, 176 Seiten, 22 Euro
ISBN: 978-3-95614-601-5

Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 11.11.2024 auf SR kultur.

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