Ruth-Maria Thomas: „Die schönste Version“

Ruth-Maria Thomas: „Die schönste Version“

Sara Males   06.11.2024 | 18:00 Uhr

Die junge Schriftstellerin Ruth-Maria Thomas hat einen Roman über das Aufwachsen im Ostdeutschland der Nullerjahre, weibliche Sozialisation und Gewalt an Frauen geschrieben. „Die schönste Version“ wurde für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert. Sara Males stellt ihn vor.

Jella Nowak, eine junge Studentin Anfang zwanzig, sitzt in einer Polizeistation, um ihren Freund anzuzeigen – Tatbestand häusliche Gewalt. Während der Polizist ihren Bericht entgegennimmt, läuft in ihrem Kopf ein innerer Monolog ab. Unter Schock stehend spult sie noch einmal die Szene ab, die sich soeben abgespielt hat:

Reingeboxt, aus Wut, zack, Faust rein. So einfach. Dumme Hure! Und Hände an meinem Hals. An meinem Atem. Mein Atem, der macht, dass Luft in meine Lungen kommt, der macht, dass ich lebe. Dorthin hat er seine Hände und dann einfach zugedrückt.

Die brutale Eingangsszene liest sich wie eine Trigger-Warnung für den Rest des Romans. Es geht hier um Gewalt gegen Frauen, aber vor allem auch um die Schritte hin zu dieser Gewalt: ein Erwachsenwerden in einem Umfeld, das die Akzeptanz dieser Gewalt begünstigt. „Die schönste Version“ erzählt von Jellas Leben nach diesem brutalen Vorfall und fragt gleichzeitig in einer Rückblende auf Kindheit und Jugend, wie es so weit kommen konnte: Jella wächst im Ostdeutschland der Nullerjahre auf, in einer kleinen Stadt, die früher ein Tagebaustandort war. Ihre Mutter zieht nach Berlin und lässt Jella und ihren passiven Vater zurück. Sie will, wie alle Jugendlichen, vor allem irgendwo dazugehören:

Bis zur achten Klasse waren Valentina und ich unzertrennlich. Am Ende des siebten Schuljahres intensivierte Valentina ihr Voltigier-Training. Und ich fing an, mich mehr wie die Mädchen in meinem Viertel anzuziehen, die immer in Gruppen rumhingen und eine Ausstrahlung hatten, die mich anzog.

Valentina, ein Mädchen aus Jellas Klasse stellt zunächst eine Art Projektionsfläche für Jella dar, weil sie zu haben scheint, was Jella nicht hat: fürsorgliche Eltern mit Geld. Doch das ändert sich mit dem Teenageralter, als die Trennlinie nicht mehr zwischen arm und reich, sondern eher zwischen cool und uncool verläuft. Da lernt Jella Shelly kennen, die eigentlich Mishelle heißt. Shelly hat alles, was für Jella erstrebenswert ist: Sie trägt High Heels und Lipgloss, geht auf Dates und raucht. Eine faszinierende Welt, zu der auch Jella dazugehören will:

Der Motor übertönte mein Herzpochen. Tom stieg aus, stellte sich vor mich, ich konnte seinen Atem riechen: Kaffee und Kippe, es roch nach Zukunft und Erwachsensein, nach dem, was ich werden wollte. Er legte seine Hände auf meinen Arsch und zog mich an sich heran. Ich wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war für ein Date, es war mein erstes. Es war ein gutes Zeichen, es war bestimmt ein gutes. Es war ja nicht Toms erstes Date, er wusste ja, wie man es macht.

Die Grenze, die zwischen Konsens und sexualisierter Gewalt verläuft, verschwimmt in der Erzählung dieser Jugend immer wieder: Ein Nein wird manchmal nicht gehört, doch vielleicht – so denkt die Protagonistin – war sie es, die es vehementer hätte aussprechen sollen? Der Roman nimmt den Leser mit in eine Zeit vor #MeToo. Während heute über Konsens und Grenzüberschreitung zumindest mehr gesprochen wird, so scheint es in den frühen 2000ern noch weniger Möglichkeiten für ein Benennen von Gewalt zu geben.  

In diesem Kontext des Schweigens und Gelähmt-Seins trifft Jella Yannik, mit dem sie eine riskante Beziehung eingeht. Anfangs scheint er noch ein Gegenentwurf zu Jellas bisherigen Liebschaften, aber auch er objektifiziert sie. Für Yannik ist Jella eine Muse, die ihm als Inspiration für seine Malerei dient. Sie fühlt sich von ihm aufgefangen, verzeiht ihm auch seine gelegentlichen Wutausbrüche, die bis hin zu Handgreiflichkeiten reichen und die Yannik mit Eifersucht oder Kränkung entschuldigt, bis er sie schließlich fast erwürgt. "Die schönste Version" erzählt auf eine sehr gelungene und unheimlich packende Weise von einem Heranwachsen, das einen nicht loslässt - vielleicht, weil so viele von Jellas Erfahrungen etwas Grundsätzliches widerspiegeln, nämlich wie sehr wir uns an kulturelle geprägte Vorstellungen von romantischer Liebe klammern und was für Kompromisse wir dafür bereit sind einzugehen.

Ruth-Maria Thomas
„Die schönste Version“

Rowohlt, 272 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-498-00695-2

Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 06.11.2024 auf SR kultur.

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