Anšlavs Eglītis: "Schwäbisches Capriccio"
Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden sich mehrere Millionen Displaced Persons, kurz DPs, aus aller Herren Länder auf deutschem Boden wieder, darunter ehemalige KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, aber auch Antikommunisten, die durch die expandierende Sowjetunion heimatlos geworden waren. In „Schwäbisches Capriccio“ rechnet der lettische Schriftsteller Anslavs Eglitis mit seiner DP-Zeit im Nachkriegsdeutschland ab. Nach über 70 Jahren ist das Buch jetzt auch auf Deutsch erhältlich. Judith Leister hat es gelesen.
Peteris Drusts ist auf der Flucht. Seit vier Tagen sitzt der ehemalige Apotheker im Zug aus Berlin – eine Zwischenstation, nachdem er Riga wegen der Roten Armee hatte verlassen müssen. Mitten im Winter landet der Lette nun im – übrigens fiktiven – schwäbischen „Pfifferlingen“. Weil die Versorgungslage in dem Fachwerkort mit bäuerlicher Wirtschaft und Textilproduktion besser ist als in der Stadt, entschließt er sich, zu bleiben. Keine leichte Entscheidung für den Großstädter:
Nachdem Drusts gerade aus den kolossalen ausgebrannten Ruinen Berlins mit ihren imposanten verkohlten Schlossportalen und den hohlen Fensteröffnungen mächtiger Theater und Großbanken kam, erschien ihm Pfifferlingen wie ein Puppen- oder Liliputstädtchen, das ein Wanderzirkus hier errichtet hatte.
Satirischer Seitenhieb auf die Schwaben
Um es gleich zu sagen: In Anšlavs Eglītis „Schwäbischem Capriccio“ haben die Schwaben keine Chance. Der Autor porträtiert sie als wechselweise knausrig oder habgierig, geltungssüchtig oder verlogen, engstirnig oder bürokratisch. Da sind zum Beispiel die Brüder Pfister, einfache Textilarbeiter, die in einer Scheune Tonnen von halb verfaulten Kleidern angesammelt haben, die von den Behörden nun aus irgend einem Grund genauestens registriert werden müssen.
Hinter der wohlanständigen Fassade lauert oft genug Bigotterie, wie im Fall des Textilarbeiters Emil Maute, der sich als mustergültiger Angestellter gibt, aber heimlich Maschinenteile stiehlt, um sich eines Tages selbstständig machen zu können. Bevor er ins Gefängnis geht, organisiert er sich noch einen Grabstein:
Dann schreib auf meinen Stein: ‚Emil Maute, Fabrikant‘! Und jetzt, meine Herren Polizisten, können Sie mich hinbringen, wohin Sie wollen. Ab jetzt kann mir nichts Schlimmes mehr passieren!
Nachkriegssituation mit burlesker Komik
Die harte Übergangszeit nach dem Krieg schildert Eglitis mit großem Unernst und viel burleskem Humor. Zum Beispiel gelingt es dem Bürgermeister mit einem rhetorischen Trick gerade noch, die Selbstzerstörung Pfifferlingens in einem sinnlosen „Endkampf“ zu verhindern. Alt-Nazis verstecken sich, aus den KZ entlassene Kommunisten werden in Ämter gehievt und bald wieder abgewählt.
Im Ort randalieren ein paar Letten, unerwünschte Ausländer, von Drusts raffiniert verteidigt als „Soldaten, die noch vor Kurzem Schulter an Schulter mit deutschen Truppen gegen die Bolschewiken gekämpft haben“. Freigelassene russische Kriegsgefangene treiben ihr Unwesen:
Dann kamen russische Gefangene, die aus dem Lager in einem Nachbardorf entsprungen waren, und feierten den Sieg auf ihre Weise. (...) Als die Getränke zur Neige gingen, betranken sich die Russen mit giftigen Flüssigkeiten aus Apotheken oder Resten aus Fabriken, starben reihenweise und bezichtigten alle Nichtrussen der Giftmischerei.
Einblicke in die Pfifferlinger Frauenwelt
Etwas sympathischer als die männlichen Pfifferlinger werden die Pfifferlingerinnen dargestellt. Für eine liebenswürdige alte Bäuerin, die eines Tages auf Reisen gehen will, ist die Fahrt schon im Nachbarort zu Ende, weil ihr vor lauter Fremdheit ganz schwindelig wird. Erwähnenswert ist auch die appetitliche Metzgerstochter Melusine.
Ihre Augen haben die Farbe von „edelster Salami“ und ihre Finger sind „weiß wie noch nicht geräucherte Würstchen“. Für den notorisch hungrigen Drusts verschmilzt sie quasi mit der Fleischtheke.
Nach ein paar Jahren entschließt Drusts sich dazu, in die USA auszuwandern. So tat es auch Anslavs Eglitis, der 1993 in Los Angeles starb. In „Schwäbisches Capriccio“ spottet er ebenso virtuos wie gnadenlos über ein Land, das am Boden liegt und vom bevorstehenden Wirtschaftswunder noch nichts weiß.
Anšlavs Eglītis
„Schwäbischem Capriccio“
Guggolz Verlag, 318 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-3-945370-47-6
Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 29.10.2024 auf SR kultur.