Saskia Hennig von Lange: "Heim"
Die 1976 in Hanau geborene und seit langem in Frankfurt am Main lebende Kunsthistorikerin Saskia Hennig von Lange hat vor elf Jahren mit der Novelle „Alles, was draußen ist“ debütiert. Danach folgten die zwei Romane. Die Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet. Jetzt ist Saskia Hennig von Langes neuer Roman erschienen, überschrieben mit „Heim“. Zu diesem Buch inspiriert hat sie die Familiengeschichte ihres Großonkels, der ein Nationalsozialist gewesen ist, und dessen behinderte Tochter. Thomas Plaul stellt Ihnen das Buch vor.
Mitte der 1930er-Jahre lernen sich Willem und Tilda auf einem Vergnügungsschiff kennen, nach dem Zweiten Weltkrieg werden sie Eltern einer Tochter. Da sie mit der geistig eingeschränkten und aggressiven Hannah nicht zurechtkommen, übertragen sie das Sorgerecht einem Kinderheim. Doch diese Entscheidung stellen sie zunehmend infrage. Denn im Heim wird Hannah jede Nacht am Bett festgebunden und immer wieder sediert. Schließlich treffen Willem und Tilda den Entschluss, ihre Tochter zu befreien.
Hannahs Distanz: Vorfall in der Vergangenheit
Saskia Hennig von Lange erzählt in „Heim“ aus der Perspektive der drei Hauptfiguren. Auch aus der des behinderten Kindes, denn Hannah versteht sich und ihre Welt auf ihre eigene Weise.
Von der Welt ihrer Eltern hat sich das Kind nicht ohne Grund abgewandt: Laut ihrer Patientinnenakte geht ihre „frühkindliche Hirnschädigung“, die wohl von einem im Buch angedeuteten Erstickungsversuch durch Tilda stammt, mit einer „geistig-seelischen Störung“ einher. Die könnte durch das angespannte Verhältnis ihrer Eltern mitbedingt sein, deren Ehe von Geschehnissen aus der Vergangenheit belastet wird.
Dunkle Geheimnisse
Diese Vorgeschichte von Willem und Tilda entblättert die Autorin dramaturgisch geschickt erst im Fortgang der Handlung. So war etwa das Schiff, auf dem sie sich lieben lernten, das NS-Kreuzfahrtschiff Robert Ley und dieses nach Spanien unterwegs gewesen. Auf ihm tummelten sich neben „Kraft-durch-Freude“-Urlauber auch Piloten der Legion Condor. Willem war einer von ihnen.
Sein Wirken in Hitlers freiwilliger Mördertruppe, die für den Tod von Tausenden von Zivilisten im Spanischen Bürgerkrieg verantwortlich ist, wird von Willem mit Schweigen belegt, ebenso seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg. Und lange hielt er vor Tilda verborgen, dass er schon einmal verheiratet gewesen war und seine Frau sich und die gemeinsame Tochter getötet hatte.
Tildas Last: Schuld und Sühne
„Schuld“ hat allerdings auch Tilda auf sich geladen. Sie betrügt Willem einmal und wird schwanger, das Kind lässt sie abtreiben. Hannah mit ihrer Behinderung gilt daher als ihr „Sühnekind“.
Am Ende des Romans stellen sich Willem und Tilda endlich ihrer jüngsten Schuld, der Weggabe ihrer Tochter, und werden aktiv:
Wir tauchen tief hinein in dieses Gewühl. Wir gehen da hindurch, die Arme erhoben, schlagen wir uns einen eigenen Takt. Wir lassen uns nicht aufhalten.
Politische Reflexion der Autorin
Doch damit ist nicht Schluss: Im letzten Kapitel des Buches – also nicht in einem eigenständigen Nachwort –, reflektiert Saskia Hennig von Lange über Anlass und Entstehung ihres Romans und positioniert sich dabei politisch und moralisch. Denn zwischen der Geschichte ihres Nazi-Großonkels und seiner Familie, die sie im Roman erzählt und die eine Geschichte von Schuld und Verdrängung sowie vom Negieren jeglicher „Andersheit“ ist – wofür Hannah mit ihrer Behinderung steht – sieht die Autorin eine Verbindung zu aktuellen Ereignissen:
Denn wenn hier keiner wagte, „Flugverbotszone“ zu sagen im Hinblick auf die Ukraine, wenn es kein öffentliches Innehalten gibt für die israelischen Opfer des Hamas-Terrors und andererseits in Anbetracht des menschengemachten Horrors im Gazastreifen kaum jemand ernsthaft einen Waffenstillstand fordert oder das Ende der deutschen Waffenlieferungen, ja, nicht einmal wagt, über diese Frage laut nachzudenken, dann hat das auch mit Willem zu tun.
Zumal Willem auch ein weit verbreitetes menschliches Verhaltensmuster verkörpert:
Das selbst verordnete Schulterzucken und Stummbleiben, das Mit-heiler-Haut-davonkommen-Wollen. Das Gegeneinanderausspielen, anstatt miteinander zu reden, zuzuhören, Widersprüche auszuhalten.
Dieser anklagende Kommentar Hennig von Langes ist in dieser Form ungewöhnlich und mutig, allein schon deshalb, weil er polarisieren wird.
Ungeachtet dessen ist „Heim“ Literatur, die aufwühlt. Was an dem außerordentlichen Vermögen der Autorin liegt, mittels einer skalpellscharfen Sprache die Gedanken- und Gefühlslabyrinthe ihrer Figuren zu sezieren. Und unsere gleich mit.
Saskia Hennig von Lange
"Heim"
Jung und Jung Verlag, 256 Seiten, 23 Euro
ISBN: 978-3-99027-403-3]
Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 22.10.2024 auf SR kultur.