Romanrezension: Olga Tokarczuk "E.E."

Olga Tokarczuk: "E.E."

Rezension von Kais Harrabi   02.10.2024 | 12:00 Uhr

Schon wieder ein neuer Roman von Olga Tokarczuk. Vergangenes Jahr erst erschien mit "Empusion“ der erste Roman, den Tokarczuk nach der Auszeichnung mit dem Nobelpreis geschrieben hat. Und jetzt- etwas mehr als ein Jahr später- erscheint nun ein weiterer Roman von Olga Tokarczuk auf Deutsch. Allerdings kein neues Werk: "E.E.“ erschien auf polnisch bereits 1995 und war der zweite Roman der Nobelpreisträgerin. Jetzt ist er erstmals ins Deutsche übersetzt. Kais Harrabi stellt das Buch vor.

Bei Familie Eltzner herrscht Aufruhr. Tochter Erna zeigt überraschend Anzeichen einer übersinnlichen Begabung. Beim Abendessen will sie eine Gestalt gesehen haben – anschließend ist sie in Ohnmacht gefallen.

Noch jetzt, im Bett der Mutter, hätte sie ihn beschreiben können, vielleicht nicht jede Einzelheit, aber doch das Wesentliche: helle Augen und eine Fremdartigkeit, die schwer zu fassen war. Als hätte man eine Illustration aus einem Buch ausgeschnitten und sie in ein anderes eingeklebt. Niemand beachtete den Mann, der so sichtbar dastand, und als Greta, eine Schüssel mit Spargel in den Händen, an ihm vorbeiging, wurde es Erna klar – sie sah einen Geist.

Der Roman spielt im Breslau des Jahres 1908, und natürlich ruft die Kunde von Ernas möglicher Begabung allerlei Gestalten auf den Plan. Zuvorderst den selbsternannten Theosophen Walter Frommer, der auch in Tokarczuks letztem Roman "Empusion“ eine Nebenrolle spielt. Hinzugerufen werden außerdem der Familienarzt Dr. Löwe, sowie Arthur Schatzmann, ein junger Medizinstudent, der in Ernas Begabung ein Thema für seine Doktorarbeit wittert und hofft, eine rationale Erklärung für die Vorgänge im Hause Eltzner zu finden.

Als Erstes wäre ein bewusster Betrug denkbar, als Zweites eine Form des Wahnsinns, der Hysterie, eine Krankheit also. Und als Drittes – ein Kontakt mit der Welt der Geister.

„E.E.“ erschien 1995 auf polnisch und man merkt dem Roman an, dass er eher ein Frühwerk von Olga Tokarczuk ist. Der liebevolle Erzähler, den die Autorin in ihrer Nobelpreisvorlesung beschworen hat und der den besonderen Tonfall ihrer letzten Romane wie „Die Jakobsbücher“ und „Empusion“ geprägt hat, fehlt hier noch. Stattdessen sind die Kapitel recht nüchtern aus der Perspektive der Figuren erzählt. Und es braucht eine Weile, bis man sich in dem zahlreichen Personal zurechtfindet, von dem fast jeder eine eigene Absicht mit der jungen Erna verfolgt oder Hoffnungen auf sie projiziert. Allen voran Ernas Mutter.

Walter, sie hat eine so lebhafte Vorstellungskraft. Wir sollten sie ermutigen, ihr Repertoire zu erweitern ...« »Mein Gott, das ist doch kein Theater!«, entfuhr es Frommer. Frau Eltzner wich zurück, erstaunt und enttäuscht wie ein Kind. Ihr Kinn begann zu beben.»Warum nur will mich niemand verstehen?«, fragte sie und wandte die Augen, die sich mit Tränen füllten, dem Kronleuchter zu.

Wenn Erna dann im Verlauf der Geschichte telekinetische Fähigkeiten zu entwickeln scheint und die erste Monatsblutung bekommt, dann weht ein Hauch von Carrie durch Tokarczuks Roman. Im Gegensatz zu Stephen King interessiert sich Tokarczuk aber weniger für Traumata, sondern vor allem für die vielen Erwartungen an Erna: Übersinnlich begabtes Medium, Tochter, mögliche Betrügerin - wie bei einem Medium scheinen durch Erna nicht nur die Geister zu sprechen, sondern auch die Rollenvorstellungen der anderen Figuren im Roman. Und natürlich entzündet sich auch ein Konflikt um die Frage, ob aus Erna wirklich die Geisterwelt spricht – oder doch eher das Unbewusste. Schließlich sind wir im Jahr 1908 und die Theorien eines gewissen Sigmund Freud werden heiß diskutiert:

Diese ganze Psychoanalyse ist womöglich ein Bastard der Wissenschaft, hier sehen wir den Brennpunkt des ganzen Übels, der ganzen Entartung des Rationalismus. Wie die Dekadenz in der Kunst! Etwas geht seinem Ende entgegen, meine Herrschaften!« »Eine wenig originelle Ansicht«, bemerkte Arthur. »Und ebendeshalb zutreffend. Diese Gedanken tauchen auch immer öfter bei den Séancen auf. Die herbeigerufenen Geister sagen es ...« »Mein Eindruck ist, dass wir eher mit uns selbst sprechen als mit Geistern.«

Thematisch wirkt es fast, als hätte Tokarczuk einen Topf Spaghetti an die Wand geworfen und geschaut, welche Nudeln hängen bleiben. Subtil kündigt sich die Zeitenwende des ersten Weltkriegs an, es gibt klar feministische Untertöne, es geht aber auch um Traumta und wie sie sich in Körper und Psyche einschreiben können, toxische Männer – man merkt dem Roman eben an, dass er ein Frühwerk ist. Spannend ist „E.E.“ allemal, aber bei weitem nicht auf dem Niveau, auf dem Olga Tokarczuk heute erzählt.


Der SR kultur-Buchtipp:

Olga Tokarczuk
„E.E."
Aus dem Polnischen übersetzt von Lothar Quinkenstein,
Kampa Verlag
304 Seiten, 25 Euro
ISBN 978 3 311 10139 0

Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 30.09.2024 auf SR kultur.

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