Buchcover: Mircea Cărtărescu - Theodoros (Foto: Paul Zsolnay Verlag)

"Theodoros" - Neues Meisterwerk von Mircea Cărtărescu

Rezension von Katrin Hillgruber   27.09.2024 | 13:39 Uhr

Mircea Cărtărescu, ein oft genannter Kandidat für den Literaturnobelpreis, legt mit "Theodoros" ein neues Meisterwerk vor, findet Rezensentin Katrin Hillgruber. Das 600 Seiten starke Epos über den äthiopischen Kaiser Tewodros II. ist ab dieser Woche in Deutschland erhältlich.

Die Eltern des rumänischen Schriftstellers Mircea Cărtărescu stammen vom Land. Im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft in der Ceauşescu-Diktatur zogen sie nach Bukarest, wo ihr Sohn 1956 geboren wurde und atheistisch aufwuchs.

Der biblische König Salomon rückt ins Zentrum

Das habe bei ihm eine starke Sehnsucht nach der Bibel geweckt, sagte er einmal, so dass er sie sich im Selbststudium aneignete. Die Früchte dieser prägenden Lektüre finden sich bereits in Mircea Cărtărescus bildmächtiger "Orbitor"-Trilogie.

In seinem neuen Werk "Theodoros" jedoch drängt der biblische König Salomon von Judäa mit aller narrativen Macht in den Vordergrund – und bleibt in diesem gewaltigen Puzzle doch eine Nebenfigur:

Ich bin zum Zeitalter des biblischen Königs Salomon zurückgegangen und habe seine Liebesgeschichte mit der Königin von Saba neu erzählt. In der Bibel passiert ja nichts zwischen ihnen, aber im heiligen Buch der Äthiopier, Kebra Nagast, steht die ganze Geschichte: Sie haben eine Affäre und der Sohn namens Menelik wird geboren. Als erster äthiopischer Kaiser begründet er die längste Dynastie. Aber der Hauptteil der Handlung spielt im 19. Jahrhundert, in der Walachei im Süden Rumäniens, im griechischen Archipel sowie in Äthiopien. Es gibt also drei verschiedene Welten, die dieser Roman verbindet.

Zwischen Legende und Geschichte

Drei Weltgegenden und dreitausend Jahre umspannt dieser Roman über Kaiser Kassa Hailu oder Tewodros II. von Äthiopien, bei dem es sich möglicherweise um den rumänischen Bauernjungen Tudor handelte. Das Sujet dieses Emporkömmlings, für dessen Existenz es keine gesicherten Beweise gibt, schwebte Mircea Cărtărescu jahrzehntelang vor:

Als ich ein junger Assistenzprofessor an der Universität war, bin ich auf einen obskuren rumänischen Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert gestoßen, der eine erstaunliche Geschichte erzählt: Darin geht es um einen sehr armen Landsmann von mir, der eines Tages verschwand, um sich seinen großen Jugendtraum zu erfüllen: Kaiser zu werden. […] Und als er nach langer Zeit wiederentdeckt wurde, war er der Kaiser von Äthiopien. Mir erschien das als ein Roman in nuce, der auf einen Schriftsteller wartet. Und so habe ich mich vierzig Jahre nach Entdeckung dieser einfachen Geschichte, die nur vier Seiten umfasst, dazu entschlossen, dieses Buch zu schreiben.

Inspiriert von Borges und Márquez

Der Stil dieses pseudo-historischen Buches ist vom magischen Realismus der Lateinamerikaner Borges und Márquez inspiriert. Mircea Cărtărescu entfernt sich damit weitestgehend von dem surrealistischen Paralleluniversum seines letzten großen Romans "Solenoid", in dem die Welt eines Bukarester Grundschullehrers durch einen gewaltigen Magneten in seinem Haus ins Schweben gerät.

Mircea Cărtărescu  (Foto: Zsolnay Verlag/Heribert Corn)
Mircea Cărtărescu

Bildprache des orthodoxen Christentums

Zwar ist belegt, dass der äthiopische Kaiser Theodoros im Jahr 1855 gekrönt wurde und sich dreizehn Jahre später angesichts der drohenden Gefangennahme durch die britische Kolonialmacht erschoss. Doch der immense Rest besteht aus Mircea Cărtărescus Phantasie: Sie erschafft eine Welt voller Edelsteine, Schleier, Waffen und der faszinierend bunten Bildprache des orthodoxen Christentums. Und das alles in der zweiten Person, als Ansprache an die Titelfigur, wie der Autor erläutert:

Der Roman hat einige Besonderheiten. Zum einen handelt es sich nicht um einen herkömmlichen historischen Roman, sondern er hat etwas Postmodernistisches an sich. Die Geschichte wird in der zweiten Person erzählt, was für einen Autor sehr schwierig ist. Für eine Kurzgeschichte mag das angehen, aber auf 600 Seiten ist es ausgesprochen schwer – doch ich habe es geschafft. Und zum zweiten: Die Handlung wird von oben betrachtet, von den Erzengeln. Sie erzählen die Geschichte dieses Theodoros für das Jüngste Gericht. Dann wird Gott als der große Leser entscheiden, ob Theodoros zur Hölle fährt oder in den Himmel kommt.

Es ist erneut Ernest Wichners glänzender, hingebungsvoller Übersetzerarbeit zu verdanken, dass dieses literarische Universum nun auch im Deutschen erstrahlt.


Der SR kultur-Buchtipp:

Mircea Cărtărescus: "Theodoros"
Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner
Paul Zsolnay Verlag
672 Seiten, 38 Euro
ISBN: 9783552075092

Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 24.09.2024 auf SR kultur.

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