Marcel Beyer: "Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten von Butscha“
Eindrücke zum Ukraine-Krieg
Vor knapp drei Jahren, am 24. Februar 2022, überfiel die russische Armee Kiew und andere ukrainische Städte. Der Autor und Essayist Marcel Beyer verfolgte die zahlreichen Foto- und Videoberichte und beschäftigt sich in seinen Vorträgen und Texten mit der Frage, wie Gewalt und Krieg literarisch verarbeitet werden können.
Speziell mit der Berichterstattung über den Krieg setzt sich sein Essayband „Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten von Butscha“ auseinander.
Im Zentrum seiner Texte über den Krieg in der Ukraine stehen für Marcel Beyer Tiere. Da gibt es die seltsame Abwesenheit von Krähen auf den ukrainischen Feldern, die ihm auf den Fotos aus dem Kriegsgebiet als erstes auffällt. Die Fotografie eines Mannes, der seine Stirn auf die seines Labradors gelegt hat und diesem die Augen zuhält. Das Video der Katze, die aus dem zerbombten Hochhaus in Mariupol gerettet wird. Tiere sagen viel über Menschen in Kriegssituationen aus, so Marcel Beyer: "Immer ist man ganz schnell bei diesen Tieren als unschuldige Wesen und bei der Frage, welche Menschen zeigen ihre Menschlichkeit in dem sie sich diesen Tieren zuwenden und welche zeigen ihre Kaltblütigkeit, in dem sie sich nicht um sie kümmern oder sie töten oder sie einfach als Nahrung betrachten."
Tiere, so beschreibt es Marcel Beyer in seiner Essayreihe, werden in Kriegssituationen zu Hoffnungsträgern und zum Spiegel menschlicher Gefühle. Sie bieten auch einen Zugang zu Gewalt und Grausamkeit des Krieges, die sonst nur schwer zu fassen ist:
Ich folge der Blutspur der Tiere durch die Geschichte, folge auch ihrer Trostspur, und ich folge ihrer Spur als Verkörperung des Rätselhaften, von dem ich nicht wüsste, ob es in Kriegs- oder Friedenszeiten deutlicher zum Ausdruck kommt.
Marcel Beyer schaut in seinen Essays auf Details. Er sieht sich nicht nur Bilder und Berichte aus dem Kriegsgebiet an, er nähert sich dem Thema auch über die Essays von Viktor Schklowski, einem russischen Autor, der in den 1920er Jahren die Belagerung St. Petersburgs beschreibt. Diese unterschiedlichen Zugänge, die im Ganzen betrachtet ein Bild der Wirklichkeit, des menschlichen Leids abgeben, machen für Marcel Beyer eine besondere Form des Schreibens aus, die er "faktuales Erzählen" nennt: "Das faktuale Erzählen ist nicht fiktional, aber meine Überzeugung ist, dass immer auch die eigene Imagination, die eigene Vorstellungskraft da mit hineinspielt: Was bringe ich mit an Lese- und Seherfahrung, um die ganz akute Wirklichkeit auf irgendeine Weise zu fassen? Sie ist unfassbar, man weiß auch nicht, wie wird diese Wirklichkeit morgen aussehen, aber trotzdem muss man sich auf irgendeine Weise ein Bild von dieser Wirklichkeit machen."
Dieses Umkreisen und Annähern an die Wirklichkeit besteht auch darin, dass Informationen aus unterschiedlichen Quellen herangezogen werden und man sich der eigenen Subjektivität bewusst ist. Ganz im Gegensatz dazu beruhen populistische und propagandistische Narrative auf einem Verlust von Vertrauen, wie Marcel Beyer erklärt: "Wir können sehen, dass die russische Propaganda und Desinformation Richtung Westeuropa sehr genau unterscheidet, also dass die Ukraine von Nazis regiert sei, das kommt in Ostdeutschland besser an, dass ist halt das alte DDR Narrativ, dass da wieder anklingt. Die Angst vor dem dritten Weltkrieg, das kommt im Westen besser."
Dieser Vereinfachung wirkt Marcel Beyer in seinen Werken mit klaren Worten entgegen.
Auf einen Blick
Marcel Beyer
Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha
Mit einem Essay von Viktor Schklowski. Herausgegeben von Christian Klein und Matías Martínez
Reihe: Wuppertaler Poetikdozentur für faktuales Erzählen
144 Seiten
ISBN 978-3-8353-5362-6
20,00 Euro
Interview mit Marcel Beyer
Zu hören ist das Interview am 29.1.2025 ab 19.15 Uhr auf SRkultur.
Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 24.01.2025 auf SRkultur.