Lydia Davis: "Unsere Fremden"

Seit langem publiziert der Grazer Literaturverlag Droschl die Werke der U.S.-amerikanischen Schriftstellerin Lydia Davis. Nun liegt mit der Sammlung „Unsere Fremden“ ein fabelhaftes Best-Of ihrer Kurz-und Kürzestgeschichten vor.

Das Wesen einer sogenannten Short-Short Story hat die  2017 verstorbene amerikanische Schriftstellerin Paula Fox - Verfasserin großartiger Stories in, wie sie selbst es nannte, Zigarettenlänge - einmal so beschrieben:

Sie ist höchst komprimiert, aufgeladen, plötzlich und leistet auf manchmal weniger als einer halben Seite, was ein Roman auf 200 Seiten tut.

Eine wahre Meisterin dieser vielfach unterschätzten literarischen Form ist die 1947 in Massachusetts geborene Amerikanerin Lydia Davis, deren nun vorliegende Story-Sammlung „Unsere Fremden“ eindrucksvoll zeigt, wie mitreißend, verzaubernd und berührend Texte sein können, die auf allerengstem Raum bisweilen ganze Lebensentwürfe zu bannen vermögen. Der deutsche Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre beschrieb derlei einmal als Stücke herausgerissenen Lebens. Bei Davis klingt das zum Beispiel so:

Eine Frau kann das 55. Lebensjahr erreichen und bei guter Gesundheit sein, nicht ernsthaft krank oder behindert sein, und gleichzeitig können, nach ihrer letzten Zählung, zehn verschiedene Dinge mit ihrem Körper nicht in Ordnung sein. Von oben nach unten: Wimpern, Augen, Zahn, Kiefer, Drüse, linker Ellbogen, Leber, das unaussprechliche, linkes Knie, rechter Fuß.

Kunstvoll erfasst Davis mit wenigen genau gesetzten Wendungen in Unordnung geratene Gefühlslagen, in dem sie sich den ins Visier Genommenen manchmal frontal, häufig über den Umweg des komischen, Grotesken oder Absurden – in jedem Fall aber vollkommen überraschend nähert.

Er trinkt gern in Flughafenbars, er trinkt gern in Zügen, und er trinkt gern in der Bar an der South Station und in jeder Hotelbar.
Er mag diese Bars und den Zug, weil ihn niemand kennt und alle auf einer Reise sind oder kurz vor einer Reise stehen.
Er weiß, dass die Menschen an diesen Orten Bindungen eingehen – allerdings keine persönlichen.

Häufig erscheinen ihre Nahaufnahmen im ersten Moment launig und poetisch verspielt. Doch schon der zweite Blick offenbart, dass hier eine Menschenerklärerin am Werk ist, deren Sätze  oft im Philosophischen gründeln. Nichts an ihren Texten ist rein zufällig. Vielmehr wirkt das in Ihnen sekundenlang Gebannte, und sei es auch ins Komische gedreht, wie mit dem Skalpell aus dem großen Lebenskörper extrahiert. So heißt es in dem Stück "So spät noch wach":

Nach Mitternacht ist es still im Haus. Ich habe lange gelesen. Jetzt kommt hier ein winziger Käfer die Seite meines Buches heruntergekrabbelt. Oh, schau, ich bin nicht die einzige im Haus, die noch wach ist! Aber warum bist du so spät noch wach?

In all ihren Texten erweist sich Lydia Davis als großartige Beobachterin, die Gespräche belauscht und oft bewusst falsch versteht, um dadurch neue Sinnzusammenhänge entstehen zu lassen. Da kann ein herein flatternder Eilbrief schon mal mit einem weißen Schmetterling verwechselt werden – und ein dahin gemurmeltes Gespräch zwischen einem Mann und einer Frau die tollste Situationskomik erzeugen. So wie in dem Vierzeiler "Zwei Betrunkene beim Abendessen":

Sie war ein bisschen betrunken, als sie das Abendessen kochte, und ließ alles anbrennen. Er war ein bisschen betrunken, und es war ihm egal.

Lydia Davis, die 2013 für ihr reiches Gesamtwerk den renommierten Man Booker International Prize erhielt, gilt hierzulande noch immer als literarischer Geheimtipp, als geflüsterter Name. Das nun vorliegende Best-Of ihrer Kurz- und Kürzest-Geschichten könnte mit diesen Umstand dauerhaft aufräumen, versammelt es doch Texte von ebenso beglückender wie augenzwinkernder Federleichtigkeit, wenn es wie in dem Stück „Die Hingabe einer Mutter“ stellvertretend dafür heißt:

Ich werde meinen rechten Arm dafür geben, dass er gesund und glücklich ist. Naja, vielleicht nicht meinen rechten Arm. Aber auf jeden Fall meinen linken.

Der SR kultur-Buchtipp:

Lydia Davis
"Unsere Fremden"

Literaturverlag Droschl, 308 Seiten, 26 Euro
Aus dem Amerikanischen von Jan Wilm
ISBN 978-399-059-165-9

Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 07.10.2024 auf SR kultur.

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