Urszula Honek: "Die weißen Nächte"

Urszula Honek: "Die weißen Nächte"

Judith Leister   22.04.2025 | 16:33 Uhr

Die Lyrikerin Urszula Honek wurde gleich mit ihrem ersten Roman 2024 für den International Booker Prize, den wichtigsten britischen Literaturpreis, nominiert. Judith Leister hat das Buch gelesen.

Wer im Spätherbst mit dem Zug durch Polen reist, kann in der Abenddämmerung zahlreiche Friedhöfe sehen, die hell erleuchtet sind. In Polen ist der Brauch, an Allerheiligen zu Ehren der Verstorbenen ein Grablicht zu entzünden, nämlich noch weitaus stärker verbreitet als etwa in Deutschland. Die Toten und die Erinnerung an sie spielen auch in „Die weißen Nächte“, dem melancholischen, um nicht zu sagen morbiden Prosawerk der Polin Urszula Honek, eine Hauptrolle. Schauplatz ist ein abgelegenes Dorf in den Beskiden nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, über dem ewige Dämmerung zu liegen scheint. Die Menschen dort sind arm. Viele sind verzweifelt. Und alle wollen weg. Von denen, die es vermeintlich geschafft haben, hört man nicht mehr viel, wie etwa von Piotrek, dem Metzger:

Man erzählt sich, dass er eine reiche Witwe kennengelernt und ein Geschäft mit Fleischwaren eröffnet hat. Jetzt lässt er die Reifen auf deutschen Straßen quietschen, und die Musik aus dem voll aufgedrehten Radio schwebt durch die Luft wie eine schlechte Nachricht.

Honeks – wie sie es ausdrückt – „Roman in 13 Geschichten“ ist eine vielstimmige Chronik des Dorfes Beskid Niski, die man sowohl als Roman mit verschachtelten Zeitstrukturen wie auch als eigenständige Erzählungen lesen kann. Die einzelnen Stimmen, im Grunde ein Freundeskreis und deren Angehörige, sind teilweise über Generationen miteinander verbunden. Alle sind von einer seltsamen Todessehnsucht infiziert.

Zum Beispiel Andrzej, ein Mann mit ständigen Selbstmordgedanken, der abends durch das Dorf geht und sich verfolgt fühlt. Er hat plötzlich eine Vision wie aus einem Horrorfilm:

Bevor Du Dich versiehst, kommst Du zum letzten Haus, wo das bleiche Licht des Fernsehers in die Finsternis scheint ... Und wenn Du reingehst, dann sitzen auf den Sesseln und Betten alle Deine Toten. Aufrecht, die Hände auf den Knien, starren sie auf den Bildschirm, auf dem kein Film, keine Sendung läuft, nur das Licht zieht sie so an. Und wenn Du neben ihnen stehen bleibst, dann wenden Sie sich Dir wie auf Kommando zu, die Zähne gebleckt, aber es gibt kein Zurück, die Tür ist geschlossen.

Als Andrzej und seine beiden Jugendfreunde endlich ausbrechen wollen, landen sie nur in einem anderen Dorf, das genauso abgewirtschaftet und hoffnungslos ist wie ihr eigenes. Der eine verfällt dem Alkohol. Der andere verschwindet im Ausland. Am Schluss kehrt Andrzej einfach nach Beskid Niski zurück.

In einer anderen Geschichte erfährt man, dass Pilot, der unglücklich verliebte Freund Andrzejs und Alkoholiker, tot in dem Karpfenteich gefunden wurde, mit dem er ins Big Business einsteigen wollte. Auch Andrzej ist inzwischen tot, hat sich umgebracht.

Auch wer im Dorf alt geworden ist, hadert mit seinem Schicksal. Hanna, die ins Wasser gehen wollte, kann sogar als alte Frau dem Mann nicht verzeihen, der sie damals gerettet hat. Verbittert ist auch die Großmutter, die der kleinen Dorotka vom verstorbenen Großvater erzählt. Sie will ihre Enkelin, die eigentlich nur einige Tage bei der Oma verbringen soll, offenbar auf die Härte des Lebens vorbereiten, wenn sie sagt:

So geht es immer aus. Man wird alleingelassen und keiner fragt, ob man morgens aufgestanden ist oder was für eine Farbe man mag. Das wirst Du noch sehen.

Urszula Honek verleiht den Toten und den Vergessenen in gewisser Weise eine Stimme. In einem Interview sagte sie einmal, dass sie oft über Menschen schreibe, die sie kannte und an die nicht einmal mehr eine Fotografie erinnert, deren Enttäuschungen, Einsamkeit oder Leere jedoch unsere Beachtung verdienen würden.

In ihren atmosphärischen Texten spielt die Autorin ebenso virtuos mit Elementen aus der Folklore wie mit Schockeffekten des zeitgenössischen Films und schildert dabei doch nur das Dorfleben in den Beskiden, wie der große polnische Erzähler Andrzej Stasiuk, der in Urszula Honek eine würdige Nachfahrin gefunden hat.


Urszula Honek
"Die weißen Nächte"
Übersetzt aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Suhrkamp Verlag
160 Seiten, 23 Euro
ISBN: 978-3518432167


Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 22.04.2025 auf SR kultur.

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