Lídia Jorge: "Erbarmen"
Die portugiesischen Schriftstellerin Lídia Jorge hat mit ihren Romanen den Wandel in Portugal begleitet. Im Suhrkamp Verlag sind früher bereits einige ihrer Bücher erschienen. Während Lídia Jorge in ihrer Heimat, aber auch in anderen Ländern, wie etwa Frankreich, bekannt und präsent ist, dürften sie hierzulande nur wenige kennen. Das könnte sich nun ändern. Der Secession Verlag aus Berlin will nach und nach die Bücher dieser bedeutenden Autorin auf Deutsch herausbringen. Gerade ist der neueste Roman: „Erbarmen“ erschienen. Holger Heimann hat Lídia Jorge in Portugal getroffen und mit ihr über das Buch gesprochen.
" „Misericórdia“ – „Erbarmen“ ist ein sehr besonderes Buch für mich. Ich habe nie daran gedacht, solch ein Buch zu schreiben. Es ist mit einem Menschen verbunden, der mir sehr nah ist."
Dieser nahe Mensch ist die Mutter von Lídia Jorge. Die letzten drei Lebensjahre verbrachte die betagte Frau in einem Altersheim in der Algarve-Region. Sie machte sich Bleistiftnotizen und hielt so Stimmungen und Begebenheiten fest. Kurz vor ihrem Tod während der Corona-Pandemie gab sie ihrer Tochter den Auftrag, ein Buch zu schreiben. „Erbarmen“ sollte es heißen.
"Es war eine große Herausforderung für mich. Was sollte ich mit diesem Titel anfangen? Ich fragte meine Mutter: ‚Warum dieser Titel?‘ Und sie entgegnete: ‚Es ist wichtig, sterbenden Menschen Mitgefühl entgegenzubringen, Menschen, die nicht länger autonom sind.‘ Ich war sehr überrascht, denn während ihrer Zeit im Altersheim hatte ich immer gedacht, ihr gehe es um das Gegenteil: Sich zu beklagen und nicht darum zu beschützen."
„Erbarmen“ erzählt aus der Ich-Perspektive von Dona Alberta vom Alltag in einem Altersheim, dem Hotel Paraíso. Mit enormer Dringlichkeit legt der tagebuchartige Roman die Wehrlosigkeit und das Ausgeliefertsein alter Menschen offen. Die Abhängigkeit vom überwiegend migrantischen und selbst marginalisierten Pflegepersonal ist absolut. Es gibt fürsorgliche Schwestern, und es gibt solche, denen die ihnen anvertrauten, gebrechlichen Menschen lediglich eine Last sind.
Mehrmals sagte ich: „Guten Morgen, es ist Ostersonntag.“ Aber sie zogen mir das Unterhemd und die Bluse an, steckten mir die Füße in die Strümpfe und die Beine in die Hose und sahen mich nicht an, ihr Lachen ging an meinem Körper vorbei und über meinen Kopf hinweg, sie hoben meine Arme, als ob sie in einer Fabrik mit Metallteilen hantierten.
Nachts wird die greise Frau immer wieder von Albträumen heimgesucht. Aber sie wehrt sich vehement gegen Todesängste und kämpft mit bemerkenswerter Entschiedenheit gegen den Verlust an Klarheit und Eigenständigkeit. Die resolute, eigensinnige Dona Alberta ergibt sich nicht, sondern bleibt den Dingen des Lebens zugewandt. Das bedeutet, sich zu erinnern an Menschen und Begebenheiten und sich mit einer eigentümlichen Besessenheit immer neues enzyklopädisches Wissen anzueignen. Häufig kehren ihre Gedanken zurück zu Haus und Garten.
Ich fülle meine Seele mit unzähligen Besuchen in der Welt, an die ich mich erinnere, als ob ich noch einmal jene ferne Natur besäße. Ich, Maria Alberta Nunes Amado, nenne dies alles mein Leben. Möglicherweise weiß ich eines Tages nicht mehr, was draußen vor sich geht, wie so viele meiner Gefährten, die in diesem Haus eingesperrt sind, und dann sehen die Vormittage vielleicht alle gleich aus und verschwimmen mit den Nachmittagen. So will ich nicht leben. Lebendig zu sein bedeutet, mich an die Bewegungen der Zeit und den Rhythmus der Pflanzen zu erinnern.
Lídia Jorges Mutter war eines der Opfer der Corona-Pandemie. Der Roman schildert zuletzt mit enormer Drastik eine Heim-Gemeinschaft, die isoliert ist, sich selbst überlassen und die immer weiter im Chaos versinkt. Große Teile des Personals sind geflohen oder selbst erkrankt. Freiwillig kommt von draußen kein Arzt mehr. Die mit dem Virus Infizierten liegen dicht beieinander in einem improvisierten Bettenlager. Das Sterben wird zum ständigen Begleiter.
Man schob mich mitten in die infizierte Menge hinein, ohne Arzt, ohne Krankenpfleger, ohne die Jungs vom Empfang, und ich begriff, dass wir alle diesen Ort verlassen würden, so auf uns selbst gestellt, wie wir waren. Aber im Moment würde ich verschont bleiben.
Lídia Jorge nimmt präzise die erbarmungswürdigen Zustände in einem Altersheim und die Schicksale der Insassen in den Blick. Aber selbst inmitten der zuletzt albtraumartigen Szenerie während der Corona-Pandemie denkt Dona Alberta nicht daran aufzugeben. Dieser anrührende Roman erzählt von einem Dasein am Rand, vor allem aber davon, was das Leben bis zuletzt ausmacht.
Lidia Jorge
"Erbarmen"
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Steven Uhly
Secession Verlag
428 Seiten, 30 Euro
ISBN: 978-3966391191
Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 16.04.2025 auf SR kultur.