Franzobel: "Hundert Wörter für Schnee"
Seit 1992 sind fast 70 Bücher des österreichische Schriftsteller Franzobel erschienen. Nun erscheint sein neuer, großer Historien-Roman. Jürgen Deppe hat „Hundert Wörter für Schnee“ gelesen und mit Franzobel darüber gesprochen.
Fünfhundert Seiten für Scheitern
Es ist kalt im Norden Grönlands, so kalt, da -
zieht sich die Quecksilbersäule auf Mückenpenisformat zusammen.
Und dunkel ist es auch, acht Monate im Jahr, bis die tollkühnen oder auch einfach nur geltungssüchtigen Expeditionsteilnehmer um den Polarforscher Robert Peary am Ende des 19. Jahrhunderts zum Finale des grönländischen Winters feststellen, dass es endlich wieder heller wird:
Tatsächlich wandelte nun wieder eine blutrote Sonne über den Horizont – schwerfällig wie ein neugeborenes Kalb.
„Schwerfällig“ bis kalauernd blättert Franzobel in seinem neuen Roman „Hundert Wörter für Schnee“ die Geschichte Robert Pearys vor uns auf – jenes glücklosen Ingenieurs, den heute noch jeder kennen würde, wäre wahr, was er seinerzeit behauptete: Er, Robert Peary, sei der erste Mensch am Nordpol gewesen! Doch das wurde damals schon und wird bis heute bezweifelt. Peary ist wohl kurz vor Erreichen des Pols entkräftet umgekehrt.
Ohne Zweifel ist, dass Peary in Grönland im Rest der Zeit wie ein Kolonialherr auftrat:
Er hat alles mitgenommen, was er irgendwie greifen konnte. Er hat Gräber geplündert. Er hat die Artefakte von den Inuit mitgenommen. Er hat eben dann auch Menschen mitgenommen. Alles, wofür ihm Geld gegeben worden ist vom naturhistorischen Museum. Er war schon ein sehr, sehr obsessiver Mensch. Er wollte, glaube ich, sehr früh unbedingt Ruhm erlangen. Er wollte etwas finden, und das war in der damaligen Welt noch möglich, was unentdeckt war, was unerforscht war, wo er der erste Mensch sein kann, der beansprucht, dort gewesen zu sein.
Verschleppt, betrogen, entwurzelt
Einer der sechs grönländischen Ureinwohner, der Inuits, die Peary 1897 nach New York verschleppte und von denen nur zwei das fremde Klima überlebten, war Minik. Auch ihn gab es wirklich. Und so wird der Roman im zweiten Teil von der Biografie eines scheiternden Egomanen zur Biografie eines schuldlos Entwurzelten:
Er wird als 10-Jähriger rausgerissen, kommt in eine für ihn völlig fremde Kultur und findet sich da am Anfang natürlich überhaupt nicht zurecht. Minik ist in Amerika auch vielfach betrogen worden. Man hat ihm sehr viele Versprechungen gemacht, dass er wieder zurück nach Grönland kann. Das hat man sehr lange Zeit nicht eingehalten. Dann ist es ihm doch irgendwann nach fast zwei Jahrzehnten geglückt, dass er wieder zurückkommt nach Grönland. Und dann hat er festgestellt, er kennt die Lebensweise nicht mehr, hat die Sprache vergessen. Er ist ein völlig Fremder in dieser Kultur, die er immer als Heimat betrachtet hat, und will dann eigentlich auch wieder zurück nach Amerika.
Eine (fast) wahre Geschichte
Franzobel erzählt mit einem schier enzyklopädischen Wissen vom Untergang zweier Menschen, Peary und Minik, die auf unrühmliche Weise miteinander verbunden waren. Er erzählt detailverliebt von der Konkurrenz um die Pol-Eroberung, von den strapaziösen Expeditionen, vom Leben der Inuit, vom New York im frühen 20. Jahrhundert.
" Ich habe schon versucht, alles Material, das irgendwie verfügbar ist, zu lesen, und hab mich auch sehr detailliert erst einmal an die Fakten gehalten. Aber wie es beim Schreiben so ist: Im Laufe des Schreibens verselbständig sich das. Man merkt, manche Motive werden stärker, und irgendwann einmal löse ich mich von den Fakten. Und jetzt am Ende weiß ich gar nicht mehr genau, habe ich das erfunden oder habe ich das irgendwo gelesen. Ist das Fakt oder ist das einfach meine Phantasie? Weil der Roman dann doch letztlich irgendwie eine eigene Wirklichkeit beansprucht."
Indem zum Beispiel einer von Pearys Gegenspielern im Wettlauf zum Pol, der Amerikaner Frederik Cook, in der wörtlichen Rede einen stark böhmischen Dialekt hat: Ein böhmender Amerikaner? Eine sehr eigene Wirklichkeit.
Im Dialog rollt wiederum Peary das R so heftig, dass es sich im gedruckten Buch – je nach Erregungszustand – drei, vier, fünf R lang zieht. Eigenarrrtig!
Da kommt Franzobels Faible für das Sprachspielerische durch, das er in seinen frühen Arbeiten noch stärker gepflegt hat. Man muss das mögen – und auch die oft schrägen Sprachbilder. Sonst wird man diesen über 500-seitige Historienroman über das Scheitern selbst für gescheitert halten.
Frabzobel
"Hundert Wöter für Schnee"
Zsolnay Verlag
528 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-552-07543-6
Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 20.02.2025 auf SR kultur.