Ursula Krechel: "Sehr geehrte Frau Ministerin"

Ursula Krechel: "Sehr geehrte Frau Ministerin"

Niels Beintker   14.01.2025 | 18:00 Uhr

Ursula Krechels neuer Roman erzählt von drei Frauen aus unserer Zeit, von ihren Lebensläufen, der Erfahrung tiefer Brüche und Zäsuren sowie von einer zunehmenden Radikalisierung der Gesellschaft. Niels Beintker hat das Buch gelesen und mit Ursula Krechel gesprochen.

Die eigene Existenz vergleicht Eva Patarak mit der Lage des Essener Kräutergeschäfts, in dem sie arbeitet: 2B, nicht 1A. Ihren Sohn Philipp hat sie alleine großgezogen. Jetzt muss Eva Patarak mit ansehen, wie er hinter dem Computerbildschirm verschwindet und verwahrlost, das Studium hat er längst geschmissen. Die Mutter weiß nicht wirklich, wie sie ihm begegnen kann. Und überhaupt, so wird erfahrbar in Ursula Krechels Roman „Sehr geehrte Frau Ministerin“, bleibt ihr kaum Raum für die Verwirklichung eigener Träume.

" Es hat mich eigentlich ihre Normalität interessiert. Es hat mich interessiert, dass sie von ihrer eigenen Schüchternheit, von ihren eigenen Mängeln so sehr überzeugt ist. Und diese Mängel machen es wiederum interessant, über sie zu schreiben. Sie ist angestrengt. Sie will auch für den Sohn selbstverständlich das Beste."

Man kann Ursula Krechels Roman mit einem Triptychon vergleichen: Eva Patarak gehört das Bild auf der einen, der namenlos bleibenden Bundesjustizministerin das auf der anderen Seite. Diese lebt in einer Welt, die sich von der Evas fundamental unterscheidet, und sie wird, wichtig für das Romangefüge, Opfer einer Gewalttat. In der Mitte – die beiden Figuren und ihre Geschichten feinsinnig miteinander verknüpfend – die Lateinlehrerin Silke Aschauer. Sie lädt ihre Schülerinnen und Schüler ein, die „Annalen“ des römischen Historikers Tacitus zu lesen. Eine weitere Erzählebene öffnet sich mit dieser Rückschau: die Geschichte von Nero – und seiner Mutter Agrippina, der Gründerin Kölns. Sie verhalf dem Sohn zur Macht und wurde dann in seinem Auftrag ermordet.

" Diese Frau schaut zu oder ist daran beteiligt, wie Macht entsteht, wie Macht inszeniert wird, bis sie selber weginszeniert wird, weil sie zu mächtig ist. Aber nach Agrippinas Tod ist die Sanktionierung in der Gesellschaft groß. Der Muttermord ist ein gewaltiges Tabu auch in der römischen Gesellschaft gewesen. Das führt dann mit zu seinem Abstieg."

Neros Gewalttat treibt Silke Aschauer, die Erzählerin in „Sehr geehrte Frau Ministerin“ um. Aber nicht nur das: Die Lehrerin, die sich so gerne im Schreiben verliert, ist mit einer körperlichen Beeinträchtigung konfrontiert – sie leidet unter starken Regelblutungen, so sehr, dass ihr von mehreren Ärzten eine Operation der Gebärmutter empfohlen wird. Die körperlichen Qualen nehmen viel Raum in Silkes Geschichte ein. Ursula Krechel schildert sie behutsam und zugleich eindringlich.

Immer wieder taste ich an meinem Körper entlang, taste nach dem Schnitt. Der Körper ist Hauptschauplatz, aber dem Körper fehlt sein weibliches Zentralorgan. Wo es war, ist Stille. Die leere Mitte. Der unbetretbare Kaiserpalast. Die Kaiserin ist abgereist. Ihr geschminkter Vertreter trägt weibliche Kleider und spricht mit einer leisen, suggestiven Stimme. Im Volk gibt es nur noch die vage Erinnerung an sie.

Gezeichnete sind alle drei Frauenfiguren in Ursula Krechels Roman– Repräsentantinnen unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus. Auch die Ministerin, die erst eine Reihe von anonymen, oft abwegigen Briefen erhält und schließlich eben, vor ihrem Haus in Essen, mit einem Messer angegriffen wird. Man ahnt bei der Lektüre frühzeitig, dass es zu diesem Überfall kommen wird. Und ist trotzdem überrascht, als er sich dann tatsächlich ereignet.

" Was mich interessiert hat: Ihr Hauptthema ist der Rechtsstaat. Und der Rechtsstaat ist etwas, was wir im Moment sehen, etwas, das verteidigt werden muss – ich glaube, zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik auf so heftige Weise. Und zweitens, dass sie Freude hat am Gestalten. Und das Gestalten hat nicht zwangsweise etwas mit Macht oder mit Bündnissen zu tun. Sondern mit einer Vorstellung von Recht, die sie hat."

Der sich allmählich anbahnende Weg zur Gewalttat gegen eine hohe politische Repräsentantin der Bundesrepublik bestimmt die oberflächliche Struktur von Ursula Krechels Roman „Sehr geehrte Frau Ministerin“. Zum Ereignis werden die fortwährenden Bewegungen in seiner Tiefe, zu den Lebenswirklichkeiten dreier Frauen aus diesem Land und ihrer raffinierten Verflechtung miteinander, zu einem Ganzen. Eine intensive, tastende Suche über vermeintlich Alltägliches. Und ebenso eine beständige Erkundung dessen, wie sich angemessen literarisch erzählen lässt.


Ursula Krechel
„Sehr geehrte Frau Ministerin“

Klett-Cotta Verlag, 368 Seiten, 26 Euro
ISBN: 978-3-608-96653-4


Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 14.01.2025 auf SR kultur.

Push-Nachrichten von SR.de
Benachrichtungen können jederzeit in den Browser Einstellungen deaktiviert werden.

Datenschutz Nein Ja