Burkhard Spinnen: "Vorkriegsleben"

Burkhard Spinnen: "Vorkriegsleben"

Katrin Hillgruber   11.12.2024 | 18:00 Uhr

Immer wieder stellt sich der Münsteraner Schriftsteller Burkhard Spinnen der Herausforderung des Gesellschafts- und Gegenwartsromans. Spinnens neuer Roman „Vorkriegsleben“ führt zurück in den Februar 2022, kurz vor der russischen Invasion in die Ukraine. Inmitten der krisenhaften Gegenwart wird ein gutsituierter Unternehmer mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Katrin Hillgruber hat „Vorkriegsleben“ gelesen.

Der Spediteur Richard Morjan aus dem westfälischen Unna ist ein wahrer Hahn im Korb. Nicht weniger als zehn weibliche Wesen, anwesende wie abwesende, umgeben ihn: von seiner demenzkranken Mutter bis hin zu ukrainischen Zwillingsmädchen. Zusammen mit ihrer Mutter nimmt er die Kriegsflüchtlinge im Frühjahr 2022 bei sich in seinem überdimensionierten Bungalow auf. Morjans Frau Angela hat ihn da bereits seit Jahren mit der gemeinsamen Tochter ohne ein Wort der Erklärung verlassen. Trotz der vielen Frauen um ihn herum – zu den realen gesellen sich die Erinnerungen an diverse Ex-Freundinnen – handelt es sich bei dem Protagonisten von Burkhard Spinnens Roman „Vorkriegsleben“ um einen einsamen Mann Ende fünfzig. Zum Glück hat er Soffy, eine weiße Königspudeldame, die sich in ihrem Korb zusammenrollt.

Vielleicht, denkt Morjan, weiß sie alles, was geschieht. Nicht nur, was sie sehen, hören und riechen kann, sondern auch das, was ihn ihm vorgeht. Vielleicht fühlt sie mit ihm; und vielleicht traut sie ihm gerade deshalb nicht mehr zu, dass er immer für sie sorgen wird. […] Da schiebt er seine Hand unter ihren Körper, bis er ihren Pulsschlag fühlt. Vielleicht ist es auch seiner.

Seit Thomas Manns Erzählung „Herr und Hund“ ist in der deutschsprachigen Literatur nur selten derart einfühlsam über die Beziehung eines Menschen zu seinem Hund geschrieben worden wie in „Vorkriegsleben“. Soffy hat sich für Richard entschieden, als er sie in seinem Büro für einen Kollegen gehütet hat. Diese gefühlvolle Ebene hat Burkhard Spinnen mit Bedacht in seinen Gesellschaftsroman eingezogen, der große und schwere Themen verhandelt: scheiternde Beziehungen, die Corona-Pandemie und den Ausbruch des russischen Angriffskriegs im Februar 2022.

Als Spediteur erlebt Richard Morjan häufig Kunden in Ausnahmesituationen wie nach Trennungen und Todesfällen. Aber das wortlose Verschwinden seiner Frau, in deren Transportunternehmen er eingeheiratet hat, kann er nicht verkraften. Außerdem wäre er viel lieber Aktionskünstler als Spediteur geworden – der klassische Konflikt zwischen Neigung und Pflicht. Nun verkauft er das Unternehmen und kann sich doch nicht von ihm lösen. Hinzu kommt die politische Spannung vor dem Kriegsausbruch: Sie befeuert Morjans unbewältigte Konflikte.

Dienstag, 15. Februar 2022. Gegen sechs Uhr früh wacht Morjan auf, doch er weiß nicht, wer er ist. Er fühlt nur, was er ist. Name, Beruf und dergleichen fehlen; doch da ist die starke Gewissheit, er selbst zu sein, jemand, der dieses mag und jenes nicht, der weiß, wozu er Abstand hält und was ihn mit der Welt verbindet. Und eines ist klar: Nie war er jemand anderes: er ist unverwechselbar und unveränderlich. Der Zustand dauert ein paar Sekunden oder nicht einmal eine. Dann erscheinen sie: sein Name und seine Vergangenheit, der gestrige Tag, seine Pläne, Wünsche und Ängste. Das alles legt sich um den gewichtslosen Kern seiner Person und drückt ihn tief in sein Bett.

Das Thema Scheitern beschäftigt Burkhard Spinnen anhaltend. Vor gut zwanzig Jahren legte er mit „Der schwarze Grat“ eine hochgelobte Unternehmer-Biografie vor. Auch sein Roman „Rückwind“ führte 2019 am Beispiel eines leidgeprüften Windkraftunternehmers in das vermeintlich trockene Innenleben der Ökonomie. Burkhard Spinnen sagte damals:

"Wir haben ein extrem mechanistisches Bild von der Wirtschaft, das uns vermittelt wird in Vierteljahresbilanzen, Aktienkursen etc. Was fehlt, ist ein Bild von der Wirtschaft, in dem auch Scheitern eine […] Größe ist wie in unserem Alltag. Wenn wir unseren eigenen Alltag mit Vierteljahresbilanzen oder vielleicht sogar mit Wochenbilanzen pflastern würden, wäre das das schiere Grauen. Unser Alltag ist ganz im Wesentlichen die Methode, die Kunst, mit dem Scheitern fertig zu werden."

Das Leben von Richard Morjan in „Vorkriegsleben“ gerät nicht nur durch den Krieg gegen die Ukraine ins Wanken, sondern auch durch einen Erpressungsversuch: Jemand, der Richard gut kennen muss, schickt ihm anonym Filmaufnahmen und Fotos, auf denen er als Junge und als angehender Künstler zu sehen ist. Das bringt ihn zum Nachdenken:

Man verändert sich nicht langsam und in kleinen, unmerklichen Schritten. Das ist ein Irrglaube. Vielmehr steckt der alte Mensch schon immer im jungen. Er schiebt sich nach außen; und das geschieht ruckhaft, es ist ein Vor und Zurück. Der Alte drängt hervor, der Junge wehrt ihn ab, der Alte zieht sich zurück, um Kraft für den nächsten Angriff zu sammeln. Er wird sich nicht aufhalten lassen, und irgendwann verschlingt er den Jungen.

Alle diese biografischen Elemente vermengen sich zu einem ungemein spannenden und lebensklugen Gegenwartsroman. Denn Richard Morjans „Vorkriegsleben“ ist auch das unsere.

Burkhard Spinnen
"Vorkriegsleben"

Verlag Schöffling & Co., 320 Seiten, 26 Euro
ISBN: 978 3 89561 514 6

Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 11.12.2024 auf SR kultur.

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