Zwei Hände halten sich gegenseitig am Krankenbett (Foto: picture alliance / Oliver Berg/dpa | Oliver Berg)

Ärztlich assistierter Suizid im Saarland: "Ich will entscheiden, wann und wie ich sterbe"

Martina Kind   02.12.2023 | 09:02 Uhr

Seit Februar 2020 ist der ärztlich assistierte Suizid in Deutschland erlaubt. Neun Personen im Saarland haben sich seitdem dafür entschieden, ihr Leben mit Hilfe eines todbringenden Mittels unter ärztlicher Begleitung zu beenden. Diesen Weg will auch die 91-jährige Saarbrückerin Dolly Hüther gehen – so wie es ihre Freundin getan hat.

Im Mai 2021 ist eine gute Freundin von Dolly Hüther in ihrem Zuhause in Saarbrücken-Klarenthal gestorben – aus „Lebenssattheit“, so ist es in der Statistik der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) erfasst. Seither weiß Dolly Hüther: Auch ihr steht diese Option offen. Und sie ist bereit, sie zu nutzen, wann immer sich eine Krankheit einschleichen oder ihr das Leben aus sonstigen Gründen verdrießlich werden sollte. Ein beruhigender Gedanke sei das, sagt die 91-Jährige aus Saarbrücken im Gespräch mit dem SR.

Hüthers Freundin war 87 Jahre alt, als sie ihren Tod aus freien Stücken und unter ärztlicher Begleitung einleitete. Darauf habe sie lange gewartet, erzählt Hüther. Als das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 dann das bahnbrechende Urteil fällte, dass das bis dahin geltende Verbot der „geschäftsmäßigen Sterbehilfe“ verfassungswidrig ist, sei es nur noch eine Frage der Zeit gewesen. Ja, sie habe zunächst versucht, auf ihre Freundin einzuwirken. Der Vorstellung an ein Leben ohne sie schmerzte sie.

Und dann dürfte es auch die eigene Angst vor dem Tod gewesen sein, die sie vor dem Tod ihrer guten Freundin grausen ließ. Denn der Tod einer geliebten Person geht auch immer mit der Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit, die wir nur allzu gerne verdrängen, einher. Diese Angst habe Hüther inzwischen überwunden, erzählt sie. "Seit zwei Jahren setze ich mich nun intensiv mit meinem eigenen Tod auseinander – und mit der Möglichkeit, meinem Leben selbstbestimmt und würdevoll ein Ende zu setzen."


Assistierter Suizid: Rechtliche Lage

"Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.
Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen."
Quelle: BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020


Sorgfaltskritieren müssen erfüllt sein

Hüther hat daraufhin eine Mitgliedschaft bei der Sterbehilfeorganisation DGHS beantragt. Damit ist sie eines von fast 29.000 Mitgliedern bundesweit. Für ihre Mitglieder vermittelt die DGHS eine ärztliche Freitodbegleitung, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. "Im Schnitt gehen jeden Monat 63 Anträge auf Vermittlung einer ärztlichen Freitodbegleitung ein", berichtet Wega Wetzel, Sprecherin der DGHS. "Davon kann die Hälfte umgehend weitergeleitet werden, da diese vollständig und aussagekräftig sind."

"Vollständig und aussagekräftig" bedeutet, dass der oder die Sterbewillige zunächst in einem schriftlichen Antrag überzeugend dargelegt hat, freiverantwortlich und wohlerwogen zu handeln. "Es muss nachvollziehbar begründet sein, warum nur dieser Weg in Frage kommt und es keine Alternativen für die betroffene Person gibt", erklärt Wetzel. Arzt- und Krankenhausberichte bescheinigen zudem eine vorliegende Krankheit, sofern der Sterbewunsch daraus entspringt. Und: Nur wer seit mindestens sechs Monaten Mitglied der DGHS ist, darf einen Antrag stellen.

Sind alle Sorgfaltskriterien erfüllt, leitet die Geschäftsstelle der DGHS die Unterlagen über einen Koordinator an eines der bundesweit 25 Teams aus Ärzten und Juristen, mit denen die DGHS zusammenarbeitet, weiter. Dann beginnt ein mehrstufiges Verfahren: Zunächst macht sich der Jurist bei einem Hausbesuch ein umfassendes Bild von der sterbewiligen Person, danach folgt ein ärztliches Zweitgespräch. Beide fertigen Protokolle ihres Besuches an.

Zwischen zwei und acht Wochen vom Antrag zum Termin

"Auch hier gilt: Gibt es an irgendeiner Stelle Zweifel an der Urteils- und Entscheidungsfähigkeit, wird der Prozess abgebrochen." Ansonsten könne ein konkreter Termin für den ärztlich begleiteten Suizid vereinbart werden. "Von der Antragstellung bis zum Termin vergehen meist zwischen zwei und acht Wochen." In dringenden Fällen – das heißt, wenn eine schwere Krankheit schon weit fortgeschritten ist – könne der Prozess auch beschleunigt werden.

Wie läuft der Termin selbst ab? "Arzt und Jurist führen gemeinsam den begleiteten Freitod durch. Der Jurist fungiert als Zeuge, der Arzt stellt das Medikament und legt den intravenösen Zugang, der vom Suizidwilligen selbst in Gang zu setzen ist", erklärt Robert Roßbruch, Professor für Gesundheits- und Pflegerecht an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS). "Der Freitod wird somit regelmäßig mittels einer intravenösen Gabe eines tödlich wirkenden Narkosemittels vorgenommen."

Bevor es dazu komme, frage der Arzt noch einmal explizit nach, ob sich die suizidwillige Person bewusst darüber sei, was geschehe, sobald sie das Rädchen an dem Infusionsschlauch öffne – und ob sie das auch nach wie vor wirklich wolle. "Wird das bejaht, wird die Infusion mit der tödlichen Dosis dann von der suizidwilligen Person selbst in Gang gesetzt." Nach etwa 60 Sekunden schlafe sie ein, nach zwei bis drei Minuten komme es zum Atemstillstand, nach weiteren zwei bis vier Minuten trete der Herztod ein.

Krankheiten oft Beweggrund

Seit 2020 hat die DGHS im Saarland zwei Freitodbegleitungen vermittelt, einmal im Mai 2021, das andere Mal im Frühjahr 2023. Neben der DGHS gibt es noch zwei andere Sterbehilfeorganisationen, die Unterstützung bei der Vermittlung anbieten: der Verein Sterbehilfe und Dignitas Deutschland, der Ableger der gleichnamigen Schweizer Sterbehilfeorganisation. Während Dignitas seit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil drei Menschen im Saarland bei ihrem Freitod begleitet hat, waren es beim Verein Sterbehilfe insgesamt vier.

Hinter einem Suizidwunsch steckt nach Angaben der DGHS meist ein schmerzhaftes, mitunter langes und unheilbares Leiden. Dieses könnte durch multiple Erkrankungen verursacht sein, häufig sind es auch Krebs- oder neurologische Erkrankungen. "Multiple Sklerose, Parkinson und die Amyotrophe Lateralsklerose, besser bekannt als ALS, machen dabei 90 Prozent der neurologischen Erkrankungen aus", sagt Roßbruch. Zu den anderen Erkrankungen zählten etwa: COPD, das Chronische Fatigue-Syndrom, Schlaganfälle bzw. deren Folgen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Lähmungserscheinungen.

Doch auch Lebenssattheit kommt immer wieder als Motiv vor. "Hierbei handelt es sich in der Regel um Menschen, die bereits ein sehr hohes Alter erreicht haben. Die sagen: Ich habe ein glückliches und erfülltes Leben gehabt, besser wird es nicht mehr werden. Mittelfristig werde ich wohl in ein Heim gehen müssen und das will ich nicht", erklärt Roßbruch. Oftmals seien sie bereits immobil oder inkontinent und könnten oder wollten das Haus nicht mehr verlassen. "Sie sind einsichts- und urteilsfähig und ihr völlig rationales Handeln basiert auf wohldurchdachten und konstanten Überlegungen."


Lebenssattheit als Motiv

Lebenssattheit war auch das Motiv von Dolly Hüthers Freundin. "Sie litt an mehreren Erkrankungen, die ihr das Leben erschwert hatten", erzählt Hüther. Darüber hinaus hätte sie die traumatischen Erfahrungen, die sie im Zweiten Weltkrieg gemacht habe, nie ganz überwunden. "Als dann auch noch ihr geliebter Mann gestorben ist und sie das Leben fortan ganz alleine bestreiten musste, ist der Wunsch zu sterben immer lauter geworden."

Aus welchen Gründen sich ein Mensch für eine Freitodbegleitung entscheidet, dürfe nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aber ohnehin keine Rolle spielen, sagt Roßbruch. "Wir haben eine glasklare rechtliche Regelung der Suizidassistenz bzw. der professionellen Freitodbegleitung. Diese ist eben nicht nur auf schwere oder unheilbare Krankheiten beschränkt. Einzig die persönliche Freiverantwortlichkeit muss gegeben sein."

Dass immer wieder die Rede davon sei, dass assistierte Suizide seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes in einer rechtlichen Grauzone stattfinden, kann Roßbruch nicht nachvollziehen. "Wir haben zwar in Deutschland keine ausdrückliche gesetzliche Regelung der Suizidassistenz, die hieraus abgeleitete Schlussfolgerung, wir hätten daher in Deutschland diesbezüglich eine rechtliche Grauzone oder gar einen rechtsfreien Raum, ist jedoch unzutreffend."


Assistierter Suizid: Rechtliche Lage

"Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist als Ausdruck personaler Freiheit nicht auf fremddefinierte Situationen beschränkt. Das den innersten Bereich individueller Selbstbestimmung berührende Verfügungsrecht über das eigene Leben ist insbesondere nicht auf schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt.
Eine Einengung des Schutzbereichs auf bestimmte Ursachen und Motive liefe auf eine Bewertung der Beweggründe des zur Selbsttötung Entschlossenen und auf eine inhaltliche Vorbestimmung hinaus, die dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes fremd ist."
Quelle: BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020


Demnach gebe es eindeutige strafrechtliche Regelungen, die rechtswidriges Handeln bei der Suizidassistenz unter Strafe stellen. "Ein Beispiel: Gewährt ein Arzt bei einem nicht einsichts- und entscheidungsfähigen Sterbewilligen Suizidhilfe, so macht er sich des Totschlags gemäß § 212 StGB strafbar. Es gibt also keine rechtliche Grauzone", erklärt Roßbruch. Dies hätte auch das Bundesverfassungsgericht so gesehen, sonst hätte es den Bundesgesetzgeber verpflichtet, entsprechende gesetzliche Regelungen zu verabschieden, argumentiert Roßbruch weiter. "Dies hat es aber gerade nicht getan."

Beratungspflicht notwendig?

Das Bundesverfassungsgericht verpflichtete zwar nicht dazu, empfahl wohl aber, die Voraussetzungen für die Sterbehilfe per Schutzkonzept zu regulieren, um Missbrauch zu verhindern. Zwei Gesetzesentwürfe zur Neuregelung scheiterten jedoch im Juli dieses Jahres im Bundestag, für Sterbewillige bleibt die Situation daher bis auf Weiteres unverändert. Beide Gesetzesentwürfe sahen unterschiedlich hohe Hürden für den ärztlich assistierten Suizid vor, waren sich allerdings einig darin, dass es eine Beratungspflicht geben sollte. Diese lehnt die DGHS ab.

"Wir haben ein entsprechendes Schutzkonzept entwickelt, das sich bewährt hat. Nach unseren Erfahrungen fällt diese Entscheidung niemand leichtfertig, es geht hier in der Regel um erwachsene Menschen, die sich nach langer Überlegungszeit dazu entschieden haben, eine professionelle Freitodbegleitung in Anspruch zu nehmen", sagt Roßbruch. Hier eine gesetzliche Beratungspflicht implementieren zu wollen, empfänden die suizidwilligen Menschen als Entmündigung.

Das sieht die 91-Jährige Dolly Hüther ähnlich – warum sollte sie sich dafür erklären und rechtfertigen müssen, diesen Weg für sich zu wählen? "Für mich ist nun einmal klar, dass ich nicht ins Altenheim oder andere Einrichtungen, die ich persönlich mit einem Autonomieverlust gleichsetze, gehe. Dafür habe ich zu viel gesehen. Ich will selbst entscheiden können, wann und wie ich sterbe."

Gleichwohl betont Hüther: Ihr Leben sei schön, sie fühle sich trotz ihres hohen Alters noch fit und gesund, und solange das noch so sei, wolle sie auch bleiben. Sie habe ihren eigenen Tod keineswegs terminiert. "Dennoch, meine beiden Söhne wissen Bescheid, wir haben alles besprochen, wenn es mal so weit sein sollte. Eine Bedingung habe ich gestellt: Erst weinen, wenn ich es nicht mehr mitbekommen werde."


Hilfe bei Suizid-Gedanken

Sollten Sie selbst von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe:

  • Telefonseelsorge und Beratungsstelle Saar: (0800) 111 0 111
  • Nummer gegen Kummer für Kinder und Jugendliche: (0800) 116 111 oder 111 0 333
  • Saarländisches Bündnis gegen Depression: (0681) 40310-67/42
  • Kontakt und Informationsstelle für Selbsthilfe im Saarland: (0681) 9602130


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