Das Erbe eines Schuhkönigs
Bataville war früher eine blühende Stadt. Die Schuhe der gleichnamigen Kette wurden hier gefertigt. Doch mit dem Produktionsstop wurde Bataville eine Geisterstadt. Mit einem ungewöhnlichen Konzept will nun Ghislain Gad das Fabrikgelände zum Kulturzentrum machen.
(06.08.2014) Wer in einer französischen Fußgängerzone einkaufen geht, kommt an Bata nicht vorbei. Bata, der größte Schuhhersteller weltweit. 140 Läden gibt es allein in Frankreich. Gefertigt werden die Schuhe in Ländern wie Indien, Sri Lanka und Simbabwe. Doch bis Anfang der 2000er Jahre liefen sie auch im benachbarten Lothringen vom Band, in Bataville, mitten im Wald.
Dass Bataville genauso heißt wie die Schuhe, ist kein Zufall. Es war der tschechische Schuhfabrikant Thomas Bata, der seine Ware in den 1930er Jahren auch in Frankreich verkaufen wollte. Nach den damaligen Außenhandelsbedingungen war das aber nur möglich, wenn er auch im Land selbst produzierte. Also entstand hier, mitten im lothringischen Pays des Etangs, unweit der Stadt Sarrebourg, eine seiner Schuhfabriken mit Produktionshallen und Verwaltungsgebäuden. Gebaut von tschechischen Architekten, die in Kontakt standen mit Le Corbusier und Walter Gropius, maßgebliche Mitbegründer der modernen Architektur. Doch das war nicht alles: Thomas Bata ließ außerdem Wohnhäuser, einen Festsaal und sogar einen Bauernhof mit Schlachterei errichten – und taufte den Ort Bataville. Nach seinen Vorstellungen sollten seine Angestellten nämlich nicht nur für ihn arbeiten, sondern auch hier wohnen und ihre Freizeit verbringen. Das ganz besondere Konzept des patriarchalisch denkenden Schuhkönigs, das er weltweit 80 Mal umsetzte.
Kultur in der der Geisterstadt
Heute ist Bataville eine Geisterstadt. Und der, der die Geister hütet, heißt Ghislain Gad. Gad ist Ende 40 und weiß nur aus Erzählungen und Dokumenten, wie es in Bataville zuging. Doch als er den Ort zum ersten Mal besuchte, zog er ihn gleich in seinen Bann. Vor einigen Jahren kaufte er das alte Kantinengebäude, die beiden vier- und fünfstöckigen Verwaltungsgebäude, und eines der Wohnhäuser, in dem die Arbeiterfamilien lebten. Alles Backsteingebäude aus den 1930ern und 1940ern.
Seitdem hat er ein Ziel, eine Vision: Hier, in den stillgelegten Produktionsstätten sollen weiter Dinge entstehen. Aber keine Schuhe vom Fließband wie damals, sondern Ausstellungen, Kunst, Theater, Musik, Konzerte und Handgefertigtes. Und dazu investiert Ghislain Gad jede Minute.
Unermüdlich renoviert und entrümpelt er zusammen mit seiner Lebensgefährtin die heruntergekommenen Fabrikhallen, streicht Wände und richtet Zimmer ein, alles mit den eigenen Händen. So wie die Schuhproduktion einst das Lebenswerk von Thomas Bata war, scheint Bataville nun das Lebenswerk von Ghislain Gad.
Die Ästhetik der 1930er Jahre
Im Eingangsbereich des Verwaltungsgebäudes ist ein Café eingerichtet. Einfarbige Plastikstühle stehen um schlichte Tische herum, die Einrichtung spiegelt die funktionale Ästhetik der 1930er Jahre wider, die Bataville noch innewohnt. Einen Raum weiter sieht es aus wie auf einem Flohmarkt. Bunte Damenkleider und Handtaschen aus vergangenen Jahrzehnten hängen auf Bügeln an einer geschwungenen Kleiderstange aus schwarzem Metall, auf dem Regal dienen weiße runde Lampenschirme als Köpfe für ein paar Damenhüte, auf der beigemelierten Wandtapete sind getrocknete Zweige und ein paar Schwarzweiß-Fotos angebracht. In einem anderen Raum stehen ein Dutzend alte Pianos. Ghislain Gad hat nicht nur eine Leidenschaft für die alten Gebäude, sondern auch fürs Sammeln. An den Wochenenden streift er mit seiner Freundin gern über die Antikmärkte in der Region. Platz zum Lagern haben sie in den alten Fabrikhallen schließlich mehr als genug.
Die dünnen verglasten Trennwände in den Büroräumen machen es möglich, in alle Zimmer gleichzeitig hineinzuschauen. Im Rest des Gebäudes sind unzählige weitere Büroräume, Archive und sogar ein altes Atelier. Hier wurde erforscht, mit welcher Dekoration und in welchem Licht die neueste Schuhkollektion am besten im Schaufenster präsentiert werden konnte. Noch ganz im Originalzustand ist ein alter Konferenzsaal. Rund fünfzig orangefarbene und braun gepolsterte Stühle sind zum Kopf des Raumes ausgerichtet und sehen aus, als hätten noch bis vorgestern die Mitarbeiter von Bataville auf ihnen Platz genommen und dem Vortrag ihres Vorgesetzten gelauscht.
Auch der alte Ballsaal im Kantinengebäude von Bataville wirkt, als sei das letzte Fest erst vor kurzem gefeiert worden. Allerdings ist das nur Ghislain Gad zu verdanken. Es ist der Raum, der sein Herz höher schlagen ließ, als er ihn zum ersten Mal betrat. Der Raum, an dem sich seine Passion entzündete und der Raum, der ihn wohl bislang am meisten Schweiß und Geld kostete. In den Jahren, als das Gebäude brach lag, war Wasser durch die Decke eingedrungen. Nachdem er das Gebäude übernommen hatte, legte Gad 300 Quadratmeter Eichenparkett trocken und restaurierte die von dicken Säulen getragene Decke originalgetreu. Früher kamen die Bataville-Bewohner hier zu besonderen Anlässen wie zur Weihnachtsfeier oder zum Firmenfest am 1. Mai zusammen. Ghislain Gad möchte hier in Zukunft Konzerte organisieren. Kleine Zimmer für die Künstler hat er in einem weiteren Trakt des Gebäudes schon eingerichtet.
Der Hüter der Geister
Besucher können aber auch jetzt schon in Bataville übernachten. Ein paar Gehminuten vom eigentlichen Fabrikgelände entfernt liegt die Arbeitersiedlung. In einem der Wohnhäuser, in dem einst Bata-Mitarbeiter wohnten, haben Ghislain Gad und seine Lebensgefährtin eine Pension mit mehreren sehr schlichten, aber auch günstigen Gästezimmern eingerichtet. Auch sie selbst sind hier eingezogen. In den alten Fabrikgebäuden sollen weitere Gästezimmer entstehen.
Wer die Geister der alten Arbeiterstadt Bataville spüren möchte, kann im Grunde jederzeit vorbeischauen. Um etwas mehr über den Ort und seine Geschichte zu erfahren, sollte man sich allerdings vorher mit Ghislain Gad verabreden. Anderenfalls könnte es sein, dass der Hüter des Geister mal wieder auf einem der Antiquitätenmärkte der Region unterwegs ist.
Kerstin Gallmeyer
Kontakt
Ghislain Gad
Président de l'association la Chaussure Bataville
Site Hellocourt
F-57770 Moussey Bataville
Tel.: (0033) 68 47 95 306 (Handy)
E-Mail: ghislain.gad@neuf.fr
Übernachtung
Übernachtung im Gästezimmer: 22,- E pro Nacht, 17,- E pro Nacht für eine Woche. Frühstück extra.
Öffnungszeiten
Einzelpersonen oder Familien können jederzeit kommen und sich im Eingang des alten Verwaltungsgebäudes mit Hilfe eines Plans einen Überblick über das Gelände verschaffen.
Für Gruppen ab 10 Personen ist nach Voranmeldung eine Führung möglich, bei der auch der Ballsaal, die ehemalige Kantine und das Weiterbildungszentrum besichtigt werden können. Dauer: 1,5 – 2 Stunden.
An den Wochenenden ist normalerweise auch das kleine Vereinscafé geöffnet.
Führungen sind nach Voranmeldung per Mail möglich.
Eintritt
Führungen 3 Euro, mit kleinem Imbiss 5 Euro pro Person.
Anfahrt
Über die A 4 Richtung Straßburg, bei Phalsbourg abfahren auf die N 4 Richtung Sarrebourg, dann über Réchicourt-le-Château. Bataville liegt zwischen Réchicourt-le-Château und Moussey.