Gegen das Vergessen

Es gibt junge Leute, die finden es toll, an einem Samstagabend mit ein paar Kästen Bier zum Ban-Saint-Jean zu fahren und sich dort zu gruseln, während sie sich die Kanne geben. Lost Places nennt sich das in den Sozialen Medien. Die Menschen in den umliegenden Dörfern finden das gar nicht lustig. Allen voran Bruno Doyen.

Bruno Doyenwar Präsident der Franko-Ukrainischen Vereinigung zur Anerkennung des Massengrabes im Ban-Saint-Jean. Dabei geht es nicht nur um die Würde des Ortes, sondern auch darum, dass das Herumlungern in den baufälligen Häuser höchst gefährlich ist.

Von Offizierscamp zum Kriegsgefangenenlager

Der Ban-Saint-Jean zwischen Creutzwald und Boulay war ursprünglich ein Militärcamp. Es entstand im Zuge des Baus der Maginot-Linie. Das ist das System aus Bunker- und Abwehranlagen vor allem entlang der deutschen Grenze, die dem Westwall gegenüberstanden.

Mitten auf dem Feld wurde Ende der 1930er Jahre eine Siedlung für französische Offiziere gebaut, mit Unterkünften, einer Schankstube, einem Theatersaal, einem Polizeiposten und einer Kirche.

Dann marschierten die Deutschen ein, und die Wehrmacht übernahm das Camp als Lager zunächst für französische Kriegsgefangene. Ein Berühmter war darunter: Sergeant François Mitterrand, der später Präsident von Frankreich werden sollte. Er blieb nur eine Woche im Ban-Saint-Jean, bevor er nach Boulay verlegt wurde. Er konnte fliehen und über Metz und Nancy ins damals „Freie Frankreich“ gelangen.

Über 20.000 Menschen fanden hier den Tod

Das Lager gehörte zum so genannten Stalag XIIF in Forbach. Ab 1941 wurden hier sowjetische Kriegsgefangene für den Arbeitseinsatz in den Kohle- und Eisenminen und auch auf Bauernhöfen untergebracht.

Gebaut wurde das Militärcamp für 1.200 Menschen. Zeitweise lebten dort, auch unter freiem Himmel zusammengepfercht, bis zu 4.000 Männer zusammen.

Krankheiten breiteten sich aus, bis zu 22.000 Menschen starben daran oder verhungerten. Als Hütejungen nach dem Krieg Kühe dort weiden lassen sollten, fanden sie nichts vor. Alles kahl. Die Menschen hatten vor Hunger jeden einzelnen Halm ausgerissen und gegessen.

Diejenigen, die auf den Bauernhöfen arbeiten konnten, wurden jeden Morgen abgeholt und abends wieder zurückgebracht. Sie hatten oft Glück, konnten auf den Höfen etwas zu essen bekommen. Auch in den Kohlegruben gab es lothringische Bergleute, die den Kriegsgefangenen halfen.

Tiefe Verbindungen zu denen, die geholfen haben

Einer dieser Kriegsgefangenen, die unter Tage eingesetzt wurden, war der 17-jährige Krankenpfleger Iwan. Von einem der Bergleute wurde er mit Nahrung versorgt, konnte so überleben. Das hat Iwan nie vergessen. Nach dem Krieg suchte er über Jahrzehnte seinen Retter. Er hieß Franz Weiß und lebte in Boucheporn. Inzwischen hatte Franz aber wieder seinen französischen Namen, François, angenommen.

Die Enkelin von Franz Weiß reiste dann nach Tschaikowski in Russland. Auch eine Delegation des Vereins reiste dorthin. Viele Menschen kamen in die Stadthalle. Sie wurden eingeladen, die Dokumentation über die Zeit des Gefangenenlagers zu sehen. Als das Licht wieder anging, erinnert sich Bruno Doyen, weinten die Menschen. Nicht nur wegen der im Krieg so dramatischen Ereignisse. Sondern, weil es Menschen in Frankreich gab, die heute noch der Soldaten aus der Sowjetunion, aus Russland, aus der Ukraine, aus Galizien gedachten.

Heimkehrer galten als Verräter

Das Schreckliche für Rückkehrer aus den Kriegsgefangenenlagern war aber noch etwas anderes: Stalin hatte damals die Losung ausgegeben: „Die letzte Kugel ist für Euch selbst.“ Wer also überlebte, wer heimkehrte, war kein Held, sondern galt als Verräter.

Als Iwan sah, wie menschlich an ihn erinnert wurde, sagte er mit über 80 Jahren: Jetzt habe er seine Ehre wiedergefunden.

Würdiges Gedenken

Darum ist es Bruno Doyen und seinen Mitstreitern im Verein auch so wichtig, dass den ehemaligen Kriegsgefangenen im Ban-Saint-Jean würdig gedacht wird. Am Parkplatz ist auf ein blaues Schild geschrieben: „Auf dem Weg mit Igor, Andreï, Iwan…“

Sie sind dabei, wenn es durch den Wald zu den verlassenen Häusern geht. Und auch auf dem Weg zum Denkmal, das seit dem Zweiten Weltkrieg von Ukrainern und Russen gepflegt wurde. Der Verein möchte den gegenwärtigen Krieg fernhalten, dennoch ist die ukrainische und russische Herkunft der Blumen leicht zu erkennen: Die linke Seite ist mit blauen und gelben geschmückt, die rechte mit roten und weißen.

Erinnerung bewahren

Auf dem Weg dahin hat der Verein Tafeln angebracht, die die Geschichte des Ortes erzählen. Und es ist nicht einfach für Bruno Doyen, dass dieser Text hier auch im Internet stehen wird. Er will nicht noch mehr Leute anlocken, die nur den Thrill in einer Geisterstadt suchen.

Darum die Einladung an alle, die dieses vergessene Kriegsgefangenenlager besuchen wollen, das so nahe an der deutschen Grenze liegt: Die Häuser sind morsch und baufällig. Betreten Sie sie nicht. Versuchen Sie den Ort in sich aufzunehmen. An die Menschen zu denken, die hier Unvorstellbares erlitten zu haben. Und tragen Sie das mit nach Hause: Dass so etwas nicht wieder passieren darf.

Lisa Huth

Auf einen Blick

Kontakt
Gabriel Becker
33, route de Boulay
F-57220 Ricrange
E-Mail: webmaster@ban-saint-jean.fr
www.ban-saintjean.fr/index.php/presentation-afu

Öffnungszeiten:
Es gibt keine ausgewiesenen Öffnungszeiten

Eintritt:
Der Eintritt ist frei

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