Oberlin-Museum in Waldersbach, Elsass (Foto: Musée Oberlin)

Der gute Papa

Das Oberlin Museum in Waldersbach, Elsass

Jochen Marmit  

„Lernen zu spielen – spielend lernen“ – so lautete das Lehrprinzip von Johann Friedrich Oberlin, der 1767 das Steintal betrat. Dort wollte er seine Erziehungsutopie umsetzen. Er gilt als "Erfinder des Kindergartens". Das Oberlin Museum im elsässichen Waldersbach lädt ein, dem Leben und Wirken des Pfarrers, Philosophen und Pflanzensammlers nachzuspüren.



Pastor, Philosoph, Pflanzensammler – Johann Friedrich Oberlin war mehr als nur der Dorfgeistliche im Steintal, im Ban-de-la Roche. Er wählte die kleine Gemeinde nahe Schirmeck in den Vogesen, um seine Überzeugung leben und anwenden zu können: Alles hat einen Sinn, und durch Wissen und Gottesfürchtigkeit zugleich, kommen wir einer idealen Gesellschaft näher. Seine Sozialphilosophie ist längst in alle Welt getragen worden, seine Idee des „Kindergartens“ längst etabliert. Zu entdecken gibt es allerdings seinen reichhaltigen Nachlass und seine Sammlungen. Und zwar direkt dort, wo er gelebt hat: im Pfarrhaus von Waldersbach, heute das Musée Jean Frédéric Oberlin.

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Tour de Kultur 2017: Das Oberlin Museum in Waldersbach, Elsass
Audio [SR 3, Jochen Marmitt, 08.08.2017, Länge: 03:10 Min.]
Tour de Kultur 2017: Das Oberlin Museum in Waldersbach, Elsass

Johann Friedrich wird zu Jean Frédéric und gründet auf Stuber

„Ich bin nun in meiner Rattenfalle“ – so schreibt Johann Friedrich Oberlin an seine Mutter. Direkt nach seiner Ankunft im Steintal am 20. März 1767. Fast 60 Jahre sollte er hier bleiben: predigen, erziehen, Visionen entfachen. Selbstgewählt war diese „Rattenfalle“ allerdings. Oberlin wollte seine Erziehungsutopie umsetzen. Also brauchte er eine „harte Umgebung“ mit Menschen, die den Ruf hatten, „Gras zu essen“. Johann Friedrich stammte aus einer Familie, die sich Ende des Dreißigjährigen Krieges in Straßburg niedergelassen hatte.

Oberlin-Museum in Waldersbach, Elsass (Foto: Musée Oberlin)

Sein Vater Johann Georg war Lehrer am protestantischen Gymnasium der Stadt, seine Mutter Maria Magdalena Felz hatte gleich mehrere Pfarrer in der Familie – kein Wunder, dass Johann Friedrich, geboren 1740, auch diese Richtung einschlug. Dabei wusste er mehrere Fähigkeiten zu verbinden, theoretische religiöse Ausbildung, technische Versiertheit, pädagogisches Geschick. Er orientierte sich auch sehr stark an der Glaubensgemeinschaft der Mährischen Brüder – sie sehen den Tod nicht als letzten Schritt, sondern als Etappe des Menschen. Dazu kam eine breite humanistische Ausbildung – Oberlin war ein Gelehrter, der mitten in der Aufklärung seine Ideen von Gesellschaft entwickelte.

Oberlin-Museum in Waldersbach, Elsass (Foto: Musée Oberlin)

Warum nun also die Stelle als Pfarrer im Steintal annehmen? Starke Niederschläge, zwischen 410 und 1.100 Meter hoch gelegen, Granitböden, schwieriger Zugang und dazu noch eine Mundart, die kein Mensch außerhalb des Tals wirklich versteht? Zum einen hatte Pfarrer Johann Georg Stuber (1722-1797) bereits pietistische Wurzeln schlagen können in Waldersbach – das hatte den Steintälern imponiert, das Suchen und das Erfahren des Göttlichen im Willen. Denn willensstark waren sie. Stuber gelang es, dass die Kinder in die Schule gingen.

Stuber begann, das Erziehungswesen zu reformieren, legte Grundlagen für so etwas wie einen Kindergarten, richtete ein Lehrerseminar ein – und das 1763. Nebenbei erfand er die erste Leihbibliothek Frankreichs – die Bücher wurden im Dorf untereinander „ausgeliehen“. Darauf wollte Johann Friedrich Oberlin aufbauen. Zum anderen war das unterentwickelte Tal ein willkommenes Feld für die Studien – was konnte es Schöneres für einen aufgeklärten Theologen zu jener Zeit geben, als die „Herde“ in eine glorreiche Zukunft zu führen? Und so wechselte Oberlin nach Waldersbach. Und weil dies auf französischem Territorium lag, änderte sich auch sein Name: aus Johann Friedrich wurde Jean Frédéric Oberlin.

Das Museum – Ein Rundgang zum Anfassen

2002 wurde das Alte Pfarrhaus (erbaut 1787) grundlegend renoviert und zum Museum und pädagogischen Lernort samt einem Kräutergarten umgestaltet. Rund 1.000 Quadratmeter Grundfläche auf mehreren Etagen, über 300 Exponate aus der Sammlung Oberlins sind hier zu sehen und anzufassen. Die Kasse und der kleine Shop befinden sich in der ehemaligen Scheune, von hier geht es durch die Bibliothek, ins Erdgeschoss des Pfarrhauses.

Oberlin-Museum in Waldersbach, Elsass (Foto: Musée Oberlin)

Dort erwarten den Besucher Spielzeuge, Silhouetten, Unterrichtsblätter, Skizzen und andere Alltagsgegenstände eines philosophischen Pastors, eines interessierten und aufgeklärten Menschen des 18. Jahrhunderts. Der Rundgang ist praktisch dreidimensional. Man kann Tafeln, Schaubilder, Figuren und Zeichnungen anschauen oder Schubladen, Fundstücke und Arbeitsmittel benutzen. Und nicht zuletzt ermöglicht eine „Oberlin-App“, sich Texte und Auszüge seines Schaffens anzuhören. Entweder hier vor Ort oder eben auch zum Mitnehmen beim Spaziergang durchs Dorf und rund um das Steintal. Gleich zu Beginn im ersten Raum geht es um die Frage: Wer bin ich? Oberlin schrieb einmal:

„Ich bin zu gleicher Zeit Germane und Franzose, edelmütig, großzügig, immer hilfsbereit, treu, dankbar, sensibel für jede Liebenswürdigkeit aber auch oberflächlich und teilnahmslos. Ich bin sehr erregbar. Die, die mit mir sehr nett sind, die haben viel Einfluss auf mich. Aber ich bin sehr beharrlich, wenn es sich um Gewissensfragen handelt. Ich habe viel Einbildungskraft, aber sehr wenig Gedächtnis. Ich bin manchmal so sensibel, dass ich die Gefühle, die mir wehtun, nicht ausdrücken kann. Trotzdem ich fleißig und artig bin, liebe ich auch die Nachlässigkeit.“

Klingt menschlich und zugewandt. Dabei konnte der gute Hirte auch sehr strikt und streng sein. Seine Überzeugungen wollte er notfalls auch rigoros durchsetzen. Nach dem Einstieg geht es durch die unterschiedlich großen Räume auf knarrenden Dielen. Gut gefüllte Tische und Vitrinen stehen hier. Immer nach Oberlins Grundsatz: „Tue etwas, während ich mit dir rede.“ Und so finden sich auch schnell die Versöhnungstafeln, die ins Gespräch und zum Perspektive wechseln führen: zweiseitig bedruckte Schrägtafeln – von jeder Seite her betrachtet stellen sie etwas anderes dar. So bei der Kindertafel. Wer den Standpunkt eines Kindes einnehmen will, der muss sich bei dieser Tafel klein machen, von unten raufschauen und sieht dann einen Engel. Von oben her betrachtet, aus der Perspektive des Erwachsenen, ist es eine Rose.

Auf drei Etagen schreiten wir durch das Oberlin Universum, finden dabei allerlei Kuriositäten und hören auch immer wieder seinen Predigten zu, die manchmal auch einfach nur lyrische Gedanken sind, so bei der Ästhetik von Tautropfen:

„Die Luft, die sich während der Nacht von allen ihren Dämpfen befreit hat, ist rein und ruhig. Die Sonne geht in majestätischem Glanz auf und malt ihr eigenes Abbild in alle Tautropfen. Wie oft ihr euch auch dreht und umdreht, eure Wiese erscheint wie von Sternen übersäht. Jeder Tautropfen glänzt und jeder von ihnen stellt das erhabene Tagesgestirn dar, die Sonne, in klein. Ein wundervolles Bild von dem, was wir sein sollten, was wir werden sollen.“

In einem Schaukasten voller Fundstücke aus der Umgebung – Oberlin liebte lange Wanderungen und sammelte alles, was er in die Finger bekam – liegt auch ein Hahnenei. Klein und entsprechend von Oberlin beschriftet. Natürlich wissen wir, dass der Hahn keine Eier legt, aber in jener Zeit war das Hahnenei ein wichtiges Thema. Denn der Sage nach schlüpft der Basilisk aus dem Ei eines alten Hahnes, das von einer Schlange ausgebrütet wird. Natürlich wusste Oberlin, dass das Humbug war. Aber er sagte sich: „wenn es für die Menschen Sinn ergibt, dann lege ich natürlich ein Hahnenei in meine Sammlung. Es gibt keinen Grund, die Wahrheit zu bezweifeln, wenn es Sinn macht.“ Mittelalter meets Aufklärung.

Oberlin-Museum in Waldersbach, Elsass (Foto: Musée Oberlin)

Im nächsten Raum ein Musikinstrument, das im kleinen Steintal bei den Gottesdiensten zum Einsatz kam – in Ermangelung einer Kirchenorgel: der Serpent, die „Schlange“. Ein schlangenförmig geschwungenes Blechblassinstrument. Oberlin hat es selbst auch gespielt. Hören kann man den Klang natürlich auch vor Ort über die App. Nur so viel: Georg Friedrich Händel setzte den Serpent noch für seine Feuerwerksmusik 1749 ein - Hector Berlioz sprach 1850 dagegen von einem „kalten, abscheulichen Geheul“. Finden Sie es einfach selbst heraus ...

Vorbei an Mikroskopen, geografischen Karten, psychologisierenden Farbmustern, Strick- und Häkelwerkzeugen, selbsterfundenen Spielen zum Mitmachen und Gebetsmühlen mit holländischem Windrad – die hat Oberlin ganz nach seinen Vorstellungen selbst entworfen – geht es zu der unglaublichen Pflanzensammlung: rund 3.600 Exemplare. Klar, dass die ausgestellten Stücke immer mal wieder ausgewechselt werden. Klugerweise wurden aber alle Pflanzen im Internet in einer Datenbank ausführlich erfasst – so kann jeder von überall jederzeit Oberlins Herbarium durchforsten: auf Französisch, Deutsch und Latein. Und dazu gibt es auch noch Hausmannshinweise aus der Waldersbacher Küche. Zum Beispiel Eicheln essbar machen:

„Die Eicheln ein bis zwei Tage in Wasser einweichen lassen, dann in einer Lauge kochen, bis sie leicht zwischen den Fingern zerdrückt werden können. Die Eicheln geben sehr viel Schaum ab, der sorgfältig abgenommen werden muss. Wenn sie gar sind, sorgfältig abwaschen und noch einmal kurz in Wasser abkochen. Zunächst mit ein wenig Pottasche oder Asche in ein Tüchlein gebunden, später ein wenig Kochsalz hinzugeben. Dann sind die Eicheln sehr gut essbar und können lange in ihrem Kochwasser aufbewahrt werden. Zu jeder Zeit werden sie gerne als Salat angemacht angenommen, besonders, wenn sie zuvor in der Salattunke zerdrückt wurden.“

Im Obergeschoss schließlich können Besucher auch Scherenschnitte anfertigen. Sie waren für Oberlin Ausdruck des dunklen Teils im Menschen. Mehr als 2.000 Scherenschnitte hat er angefertigt – einige sind ausgestellt. Für den Rundgang sollten zwischen ein und zwei Stunden eingeplant werden – je nach Intensität kann man sich schon mal im Universum des Papa Oberlin verlieren.

Kinderhaus und Garten, das Steintal „Ban-de-la Roche“

Direkt neben dem Pfarrhaus ist das Haus der Kinder. Meist für Gruppen wird hier das Oberlinsche Motto „Lernen zu spielen – spielend lernen“ praktiziert. So hatte es Oberlin seinerzeit konzipiert: Kleinkinderschulen mit besonderer Förderung – gerne wird er auch „Erfinder des Kindergartens“ genannt. Sicher hat auch Louise Scheppler, die enge Vertraute Oberlins und Lehrerin hier einiges mit bewegt. Viel Selbermachen und kreativ sein.

Oberlin-Museum in Waldersbach, Elsass (Foto: Musée Oberlin)

Bitte im Voraus Termine und Möglichkeiten erfragen! Dahinter liegt der Kräutergarten. Hier lassen sich je nach Jahreszeit seltene, essbare Kräuter bestaunen oder einfach nur den Blick auf den Ort genießen. Wer sich im Anschluss noch ein tieferes Bild vom Steintal, vom Ban-de-la Roche machen will, der ist gut beraten, zwei bis drei weitere Stunden einzuplanen. Am schönsten ist es natürlich zu Fuß „erlaufbar“. Wer der rue Montée nach oben folgt und dann links in den Wald abbiegt, kann über einen Waldweg oberhalb des Tals laufen, um dann nach Fouday zu gelangen. Dort bergab zur Kirche samt Friedhof: hier ist die Grabstätte des J.F. Oberlin.

Das Oberlin-Museum in Waldersbach (Foto: Jochen Marmit )

Zurück dann entlang des Tals nach Waldersbach (circa sechs Kilometer Rundweg). Wer lieber in den Höhenort Belmont möchte, der sollte der rue Montée folgen und rechts in den chemin de la Perheux einbiegen: gut 40 Minuten für zweieinhalb Kilometer bergauf einplanen, genauso viel über die rue Principale wieder zurück. Vielleicht im geistigen Reisegepäck mit dabei: Als Oberlin ankam, lebten hier rund 100 Familien in ärmlichen Verhältnissen. Als er 59 Jahre später starb, war die Bevölkerung auf über 3.000 Menschen angewachsen. Er hatte den Obstanbau verbessert, landwirtschaftliche Pflanzungen ausgebaut, Brücken und Straßen selbst angelegt mit den Bauern und auch kleinere Industriebetriebe angesiedelt. Nicht zuletzt gründete er 1785 eine Leih- und Kreditanstalt. Im Ban-de-la Roche hatte das Leben deutlich an Qualität gewonnen – keine Wunder also, dass ihn fast alle „Papa“ nannten.

Büchners Lenz und zwei Lesetipps

Ach ja, da war ja noch was mit dem Lenz, Jakob Michael Reinhold Lenz.

In der berühmten fragmentarischen Erzählung von Georg Büchner (entstanden um 1835, posthum erschienen 1839), besuchte dieser Lenz, ein baltendeutscher Schriftsteller der Sturm und Drang-Epoche, Waldersbach im Januar 1778. Damals war Lenz schon an paranoider Schizophrenie erkrankt. Oberlin und seine Frau Magdalene versuchten ihn zu pflegen. Doch es wurde schlimmer und er zog wieder weiter. 1792 wurde er tot in Sankt Petersburg gefunden. In Büchners Lenz wird die emotionale Achterbahnfahrt des Lenz und vor allem die Naturbeobachtungen und das philosophische Erwachen in den Mittelpunkt gestellt. Dabei hat er sich reichlich bei Oberlin bedient. Ungefähr die Hälfte des Novellentextes sind Oberlins Beobachtungen. Eine hohe Ehre auch aus literarischer Sicht. Wer sich zu Oberlin einlesen oder ausführlich weiterlesen will, dem sei von Loic Chalmel Oberlin. Ein Pfarrer der Aufklärung empfohlen. Eine hintergründige Darstellung aus dem Jahre 2012 (Verein Oberlinhaus Potsdam). Literarischer, fordernder und persönlicher ist der Dialog von Thomas Weiß Oberlin, Waldersbach. Eine Begegnung. Eschienen 2016 bei Klöpfer&Meyer.

Jochen Marmit


Kontakt

Musée Jean Frédéric Oberlin
25, montée Oberlin
F-67130 Waldersbach

Tel.: (00333) 88 97 30 27
E-Mail: oberlin@musee-oberlin.eu
www.musee-oberlin.com

Öffnungszeiten

1. April - 30. Sept.: 10.00 - 19.00 Uhr,
Dienstags geschlossen,
1. Okt. - 31. März 14.00 - 18.00 Uhr.

Eintritt

Erwachsene 5,- €,
Ermässigung 3,- € für Schüler und Studenten unter 25 Jahren,
für Familien 13,- € (1 oder 2 Erwachsene mit Kinder),
Führungen in Deutsch, Französisch, Englisch 2,- € zum Eintrittspreis.

Anfahrt

Von Saarbrücken aus A 4 nach Strasbourg, dann Abfahrt Saverne über Wasselonne nach Molsheim (alternativ über A 4/A 35 Strasbourg); Autobahnausfahrt Nr. 11 Richtung Schirmeck, 25 Kilometer bis Fouday auf D 1420, dann circa 3 Kilometer bis Waldersbach; Ausschilderung Musée bergauf folgen; enge Park­situation (circa 140 Kilometer, 2 Stunden).



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