100 Jahre Radio - Bernd Hawlat im Interview

Deutsches Rundfunkarchiv – das audiovisuelle Erbe Deutschlands

 

Das Radio in Deutschland feiert am 29. Oktober 2023 seinen 100. Geburtstag. Für den Chef des Deutschen Rundfunkarchivs, Bernd Hawlat, sind Tage wie dieser von besonderer Bedeutung. Einen Rückblick auf Radiogeschichte erlaubt auch das neue SR-Radiomuseum.

Bernd Hawlat, Vorstand des Deutschen Rundfunkarchivs (DRA) freut sich über das 100-jährige Jubiläum des Radios in Deutschland am 29. Oktober. „Das sind immer wieder kleine Startrampen, die Aufmerksamkeit schaffen für unsere Bestände, die kleine Aufmerksamkeitsspitzen generieren in unserer Nutzung und als solche deswegen immer ganz wichtige Impulse für unsere Arbeit liefern“, sagte er im SR-Gespräch anlässlich der Eröffnung des SR-Radiomuseums in Saarbrücken.

Das Deutsche Rundfunkarchiv ist eine Gemeinschaftseinrichtung von ARD und Deutschlandradio. Seit der Deutschen Einheit ist es nicht mehr nur in Frankfurt am Main, sondern auch in Potsdam-Babelsberg vertreten. Im Bestand des DRA finden sich zahlreiche Ton- und Bilddokumente, aber auch gedruckte Medien und Gegenstände von historischer Bedeutung, sogenannte Sachzeugen.

Älteste Gemeinschaftseinrichtung der ARD

Der Schwerpunkt des DRA ist aber die auditive und audiovisuelle Überlieferung in Deutschland, von den Anfängen des Rundfunks über die Weimarer Republik, die Zeit des Nationalsozialismus bis hin zum Hörfunk und Fernsehen der DDR. „Wir bewahren einen wichtigen und wesentlichen Teil des audiovisuellen Erbes Deutschlands“, so Hawlat. „Und wir versuchen – sehr erfolgreich, wie wir meinen –, das Wissen und den Zugang zur deutschen Geschichte Institutionen und Menschen zu vermitteln.“ Sowohl die Landesrundfunkanstalten als auch Forscher und weitere Nutzer haben Zugriff, letztere beispielsweise über das Mediatheksangebot ARD Retro.

Gegründet wurde das DRA, die älteste Gemeinschaftseinrichtung der ARD, am 11. November 1950 als Lautarchiv des Deutschen Rundfunks – „noch vor dem Ersten Deutschen Fernsehen“, wie Hawlat anmerkt.

Aluminium-Schallplatte auf einem Kofferplattenspieler aus den 20er Jahren im Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt (Archivbild) (Foto: picture alliance/dpa/dpa-web/Werner Baum)
Aluminium-Schallplatte auf einem Kofferplattenspieler aus den 20er Jahren im Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt (Archivbild)

Erste Aufnahmen schon vor 1900

Tonaufzeichnungen gab es schon vor dem Radio. Und auch diese Aufnahmen sind im Deutschen Rundfunkarchiv erfasst. „Da sind wir schon vor 1900“, sagt DRA-Vorstand Hawlat. „Das sind Edison-Walzen, die bei uns nicht nur verwahrt werden, sondern die wir auch jetzt als Aufgabe hatten, sie zu digitalisieren.“ Kein einfaches Unterfangen, denn mit herkömmlichen Abspielgeräten für diese Walzen ist das kaum möglich. Das DRA musste ein eigenes Gerät entwickeln, um die Schallaufnahmen digital zu sichern und auch Nutzern zur Verfügung stellen zu können.

Radiosendungen aus den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten finden aber – zumindest bislang – eher selten den Weg ins DRA. Wer also zum Beispiel Ausgaben der SR-Sendung Drugstore 1421 sucht, dürfte dort Pech haben. „Das kriegen Sie nicht bei uns, denn wir sind ein Archiv in der Flotte der öffentlich-rechtlichen Rundfunkarchive“, erklärt Vorstand Bernd Hawlat. „Die Aufnahmen, Beiträge und Sendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks werden primär in den Häusern selbst, in den Landesrundfunkanstalten gesammelt. Wir ergänzen diese Bestände durch unsere Kernbestände ‚Rundfunk vor 1945‘ und ‚Rundfunk und Fernsehen der DDR‘ und nehmen da unsere Rolle aktiv im Geleitzug der Rundfunkarchive wahr.“

Frankfurt und Babelsberg

Am Standort Frankfurt lag und liegt der Schwerpunkt bis 1990 auf der Zeit des Rundfunks vor 1945. Dann kam mit Babelsberg der DDR-Rundfunk dazu. „Im Wesentlichen ist es das Archiv von Radio und Fernsehen der DDR, wenn auch nicht ganz vollständig“, so Hawlat. „Wir kriegen aber immer noch teilweise über Vor- und Nachlässe kleine Bestandslücken gefüllt.“

Die gibt es aber nicht nur beim DDR-Rundfunk, sondern im gesamten Rundfunkarchiv. „Die Lücke ist die Regel, nicht die Ausnahme“, sagt Hawlat. Der Rundfunk habe als flüchtiges Medium begonnen, und anfangs seien Aufnahmen gar nicht möglich gewesen. Kurze Zeit später, als es technisch möglich war, habe man nur solche Inhalte aufgezeichnet, die für eine Wiederholung vorgesehen waren. „Das war in erster Linie Musik, aber auch Produktionen, die man gerne wiederverwenden konnte und wollte.“

Aktuelles – also Nachrichten beispielsweise – sei dagegen vergleichsweise selten archiviert worden, so Hawlat. „Es gab lange Zeit, abgesehen von den technischen Möglichkeiten der Aufnahme, auch Kostenfaktoren, die zu berücksichtigen waren. Bandmaterial stand, insbesondere was unsere Bestände aus der ehemaligen DDR angeht, nicht immer in ausreichendem Maße zur Verfügung, sodass man gezwungen war, Bänder wiederzuverwenden und eben entsprechend Sendungen zu opfern, die weniger erhaltenswert schienen als andere.“

Interwiew mit Bertha Benz

Eines der wichtigsten Tondokumente aus der Frühzeit des Rundfunks ist für Bernd Hawlat nicht etwa die erste Ansage aus dem Berliner Voxhaus vom 29. Oktober 1923, die „wie Donnerhall“ über dem Rundfunk stehe. „Für mich gibt es ein leises Donnern“, erzählt er und verweist auf ein Interview mit Bertha Benz. Dieses Tondokument sage sehr viel über die bemerkenswerte Persönlichkeit dieser Frau aus. „Sie erklärt nämlich Technik. Sie erklärt sehr eindrucksvoll, worin das große Verdienst ihres Mannes liegt. Sie erklärt uns, dass die mechanischen Komponenten des Verbrennungsmotors eigentlich durch die Dampfmaschine bereits alle bekannt waren.“

Das Problem habe aber an der Zündung gelegen, weil die Elektrotechnik damals noch in den Kinderschuhen steckte und man keinen regelmäßigen Zündfunken erzeugen konnte, der das Gemisch zur Explosion brachte. Dieses Problem zu beheben, sei die Meisterleistung von Carl Benz. „Und man merkt auch an diesen Ausführungen, dass diese Frau das Auto nicht nur gefahren hat, sondern auch ganz, ganz tief in den technischen Details der Arbeit ihres Mannes verhaftet war.“

Geräusche-Tonbänder im Deutschen Rundfunkarchiv in Potsdam-Babelsberg. (Foto: picture alliance/ZB/Nestor Bachmann)
Geräusche-Tonbänder im Deutschen Rundfunkarchiv in Potsdam-Babelsberg.

Empfindliche Tonträger

Mit der Propaganda der Nationalsozialisten, die sich im Rundfunkarchiv ebenfalls wiederfindet, geht das DRA vorsichtig um. „Wir müssen natürlich auch dafür sorgen, dass solche Inhalte nicht missbraucht werden“, so Bernd Hawlat. „Sie müssen einerseits leicht zugänglich sein für diejenigen, die ein wissenschaftliches, ein berechtigtes Interesse haben, daraus Erkenntnisse zu gewinnen, die wichtig für unsere Demokratie sind, für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. Aber wir müssen auf der anderen Seite auch nachhaltig verhindern, dass solche Zeitzeugnisse auch in Kontexten auftauchen, die sehr problematisch sind für die Demokratie und die dort auch eine sehr schädliche Wirkung entfalten können.“

Die Archivierung und Erhaltung von Programm ist die Hauptaufgabe des DRA – keine leichte. „Wir haben ganz dramatische Szenen, die sich teilweise bei uns abspielen, wenn wir Bandmaterial erhalten, das schon sehr betagt ist“, berichtet Bernd Hawlat. Dieses lasse sich vielleicht nur noch ein einziges Mal abspielen. Für solche Zeitdokumente hat das DRA spezielle, schonende Abspielgeräte. „Entsprechend sorgsam gehen die Technikerinnen und Techniker bei uns auch damit um, weil man wirklich buchstäblich sieht, wie das Band sich nach dem Abspielen in Konfetti verwandelt. Und was man dann nicht abgegriffen hat an Informationen, an Ton, an Wort, das ist für immer verloren. Und das möchte man natürlich tunlichst vermeiden.“

Herausfordernde Archivierung

Mit der Digitalisierung wird auch die Langzeitarchivierung leichter. Allerdings ist auch das ein ständiger Prozess. „Auch digitale Archivierung ist immer wieder etwas, das erneuert werden muss. Da gibt es Formate, die sich ändern. Da gibt es Technik, die sich ändert. Und das bleibt weiterhin auch eine Arbeit und eine Aufgabe, in diese Langzeitsicherung zu gehen.“

Vom Luxusgut zum Alltagsgegenstand
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Doch es ist nicht nur die technische Seite, die eine ständige Herausforderung darstellt. Auch die Einordnung und Kuratierung gehört beim Deutschen Rundfunkarchiv fest dazu. Ein Beispiel dafür sind die Metadaten, die Zusatzinformationen zu einem Ton- oder Videodokument. „Als Suchkriterien sind diese Angaben Gold wert“, so Hawlat. „Aber sie ermöglichen auch, in der Information, in der Weitergabe der Beiträge wichtige Kontextinformationen mitzugeben.“

Auch die Geräte erzählen eine Geschichte

Ob es sich bei einem zeitgeschichtlichen Dokument um ein Original oder eine Fälschung handelt – oder um etwas ganz anderes als zunächst gedacht –, versuchen Experten des DRA einzuordnen. „Es gibt Vergleiche die man ziehen kann“, erklärt Hawlat. In der Regel gebe zwar die Beschriftung Auskunft, aber auch die könne in die Irre führen. Überraschungen gebe es immer wieder.

Zusätzlich zum Programm faszinieren aber auch die Empfangsgeräte. Mit ihnen werde das Programm buchstäblich greifbar, meint Hawlat. „Und sie vermitteln natürlich auch einen wunderbaren Eindruck durch ihre Ästhetik, durch die verwendeten Materialien, durch die Technik, die darin erkennbar wird, einen unglaublich schönen Einblick in die Zeit und eine Ergänzung dessen, was aus den Geräten hervorkommt, nämlich das Programm, die Musik die Worte. Das bildet eine Einheit.“

Radiogeräte, wie sie etwa im SR-Radiomuseum in Saarbrücken zu finden sind, beherbergt das Deutsche Rundfunkarchiv heute nicht mehr.

Immer noch spektakuläre Funde

An Ton- und Videodokumenten wird im DRA zwar viel gesammelt, aber bei Weitem nicht alles. Und es kommen auch immer wieder außergewöhnliche Funde in den Bestand – wie zuletzt eine größere Anzahl von Schellackplatten mit Wortbeiträgen aus der Zeit des Reichsrundfunks, die an einem Straßengraben in Nordhessen gefunden wurden. DRA-Vorstand Hawlat vermutet, dass der Vorbesitzer durch die Aufschriften auf den Platten verunsichert wurde und sich anonym davon trennen wollte, denn die Polizei hatte einen Hinweis auf die Platten erhalten.

Mit privaten oder kommerziellen Anbietern alter Ton- und Videodokumente arbeitet das DRA hingegen nur selten zusammen. „Unser Anliegen ist eben nicht die kommerzielle Verwendung oder die Aufbereitung für Vertriebszwecke“, sagt Hawlat. „Wir versuchen, für die Gesellschaft zu sammeln. Wir versuchen, deutsche Zeitgeschichte abzubilden.“

Und wie gehts weiter?

Und wie sieht es für die Zukunft des Rundfunks aus? Ist Podcast noch Hörfunk? Und wird das Radio auch noch sein 150. Jahr erleben? Zumindest bei letzterem ist sich Bernd Hawlat sicher. „Das Radio hat es immer verstanden, sich der Zeit nicht anzupassen, indem es sich gemein gemacht hat, sondern seinen Weg und seinen Platz in der Zeit zu finden.“ Wenn er die Innovationskraft sehe, die ihm jeden Tag in den Rundfunkanstalten begegne, dann sei ihm nicht bange um die Zukunft des Radios.


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