Mehr polizeilich erfasste Fälle von Vergewaltigung im Saarland
Bei der Polizei im Saarland sind in den vergangenen Jahren mehr Fälle von Vergewaltigung registriert worden. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass sexualisierte Gewalt zugenommen hat. Sie stellt seit Jahren ein Problem dar. Vielmehr könnte ein wachsendes gesellschaftliches Bewusstsein dahinterstecken.
Seit 2020 ist die Zahl der polizeilich erfassten Fälle von Vergewaltigung, sexueller Nötigung und besonders schwerem sexuellen Übergriff mit Todesfolge im Saarland gestiegen – von 74 auf 100 im Jahr 2021 und 120 im Jahr 2022. Das hat das Landespolizeipräsidium dem SR auf Anfrage mitgeteilt.
2021 wurden demnach 98 Fälle von Vergewaltigung bzw. versuchter Vergewaltigung (10) erfasst. 2022 waren es 117 bzw. 4. Für das vergangene Jahr können nach Angaben des Polizeihauptkommissars Falk Hasenberg noch keine Zahlen veröffentlicht werden, sondern nur Tendenzen. Demnach zeichne sich ab, dass die Zahl der polizeilich bekannten Vergewaltigungsdelikte auch im Jahr 2023 gestiegen sei.
Eine Erklärung für die Zunahme der erfassten Fälle kann Hasenberg nicht liefern. "Wir können lediglichen Mutmaßungen anstellen, diese können wir aber nicht belegen." Ein Grund könne etwa sein, dass mehr Betroffene die Tat gemeldet hätten – insbesondere bei Sexualdelikten sei die Hemmschwelle für Anzeigen hoch. Dementsprechend müsse man allerdings auch von einer sehr hohen Dunkelziffer ausgehen.
Frauennotruf Saarland bemerkt auch bei den Beratungen einen Anstieg
Der Frauennotruf Saarland glaubt nicht, dass sexualisierte Gewalt per se zugenommen hat – sie stelle seit vielen Jahren ein "massives gesellschaftliches Problem dar", sagt Sprecherin Julia Sapelkina. "Viel eher denke ich, dass Betroffene mehr Möglichkeiten haben, über das Erlebte zu sprechen. Dies ist nicht nur, aber natürlich auch auf die wachsende Awareness für das Thema zurückzuführen."
Das mache sich auch bei den Beratungszahlen bemerkbar. Seit Jahren stiegen diese. "Natürlich geht es bei unseren Beratungen nicht ausschließlich um Vergewaltigung, sondern um jegliche Formen sexualisierter Gewalt", so Sapelkina. "Wenn wir auf die zentralen Themen der Betroffenen in den vergangenen Jahren schauen, lässt sich aber sagen, dass Vergewaltigung und häusliche Gewalt die beiden Themen sind, zu denen am meisten beraten wurde."
Mehr erfasste Vergewaltigungen widerstandsunfähiger Personen
Vor allem die erfasste Zahl besonders schwerer Fälle von Vergewaltigungen ist 2022 gegenüber dem Vorjahr gestiegen – von 5 auf 11. "In diesen Fällen kam zu einer verstärkten Anwendung von Gewalt", erklärt Hasenberg. Ebenso mehr als verdoppelt haben sich die registrierten Fälle von Vergewaltigungen widerstandsunfähiger Personen – von 11 auf 25. Die Opfer, drei davon männlich, waren in 24 Fällen unter 40 Jahre alt, die Hälfte davon unter 21 Jahre. In einem Fall war das Opfer zwischen 40 und 60 Jahre alt.
2021 fielen von den insgesamt 98 erfassten Fällen von Vergewaltigung bzw. versuchter Vergewaltigung 22 in den Bereich "Häusliche Gewalt". Alle der 22 Opfer waren weiblich. 2021 waren es bereits 30 registrierte Fälle, davon waren in 29 Fällen Frauen betroffen. Für 2023 beobachtet das Landespolizeipräsidium in diesem Bereich sogar eine "stark steigende Tendenz".
Häusliche Gewalt bezeichnet nach Angaben des Landespolizeipräsidiums (Gewalt-)Straftaten zwischen Personen in einer bestehenden oder sich auflösenden partnerschaftlichen Beziehung oder zwischen Personen, die in einem Angehörigenverhältnis zueinander stehen. Dass sich laut Polizeistatistik "nur" etwas mehr als ein Viertel der Vergewaltigungsfälle im häuslichen Umfeld ereigneten, bedeutet jedoch nicht automatisch, dass der oder die Täter dem Opfer in den anderen Fällen nicht bekannt waren.
Es ist eher selten, dass der Vergewaltiger im dunklen Parkhaus einem willkürlichen Opfer auflauert – sexueller Missbrauch findet größtenteils im sozialen Umfeld statt. Dazu zählen unter anderem der eigene Freundes- und Bekanntenkreis, Beschäftigte in Bildungs-, Sport- und Freizeiteinrichtungen, Internetbekanntschaften. "Zahlreiche Studien zeigen, dass die Täter den Betroffenen meistens bekannt sind, damit decken sich auch unsere Erfahrungen in der Beratungsstelle", so Sapelkina.
K.o.-Tropfen werden zunehmend zum Problem
Dabei nutzen Täter häufig einen Zustand ihrer Opfer aus, der es ihnen unmöglich macht, sich zu wehren – oder sie führen ihn selbst herbei. Die Polizei spricht dann von "widerstandsunfähigen" Opfern. "Widerstandsunfähig kann etwa bedeuten, dass dem Opfer vorher K.o.-Tropfen verabreicht worden sind oder ein Zustand starker Alkoholisierung ausgenutzt wurde. Es beschreibt aber auch alle anderen Fälle, in denen das Opfer nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden bzw. zu äußern", erklärt Hasenberg.
K.o.-Tropfen sind Drogen, die ihre Opfer betäuben oder wehrlos machen. Dabei können verschiedene Substanzen zum Einsatz kommen, unter anderem GHB oder GBL – beide Substanzen sind auch als "Liquid Ecstasy" bekannt. Zwar gibt es keine verlässliche Statistik darüber, wie viele Menschen im Saarland jährlich Opfer von K.o.-Tropfen werden. Das Landespolizeipräsidium bestätigte zuletzt aber, dass es immer wieder zu Anzeigen in Zusammenhang mit K.o.-Tropfen kommt. Auch hierbei ist aber mit einer hohen Dunkelziffer zu rechnen.
K.o.-Tropfen führen zu Gedächtnisverlust
Typisch für K.o.-Tropfen ist der Gedächtnisverlust – was ein großes Problem darstellt, wie Sapelkina vom Frauennotruf berichtet. Betroffene wachten an Orten auf, die sie nicht kennen, wüssen nicht, wie sie dorthin gelangt sind und was in den vergangenen Stunden vorgefallen ist. "Trotz der Erinnerungslücke können sie posttraumatische Symptome entwickeln. Aufgrund der mangelnden oder nur teilweisen Erinnerung an den Vorfall können sie die Beschwerden jedoch nicht zuordnen." Dies stelle eine zusätzliche Belastung dar und erschwere die Verarbeitung des Übergriffs.
Es ist vor allem auch deshalb problematisch, da schnelles Handeln bei einem Verdacht auf K.o.-Tropfen wichtig ist. Denn sie sind nur bis zu zwölf Stunden im Körper nachweisbar, eine Blut- oder Urinprobe muss also schnell gesichert werden, erklärt Polizeihauptkommissar Hasenberg.
Bestehe zudem der Verdacht einer Vergewaltigung, sollten Betroffene unter keinen Umständen duschen und ihre Kleidung nicht waschen. Darüber hinaus sollten die Kleidungsstücke möglichst einzeln in Papiertüten verpackt werden, damit alle Spuren erhalten bleiben.
Anonyme Spurensicherung möglich
Im Saarland ist auch ohne Anzeige bei der Polizei eine anonyme Spurensicherung für Betroffene sexualisierter Gewalt möglich. "Die sichergestellten Spuren werden zehn Jahre eingelagert und sind rechtlich verwertbar", erklärt Sapelkina. Das Angebot richtet sich an Personen, die Zeit benötigen, das Erlebte zu verarbeiten. Möglich ist eine vertrauliche Spurensicherung in ausgewählten Kliniken und gynäkologischen Facharztpraxen im Saarland. Welche das genau sind, wird auf dieser Seite gelistet.
Der Frauennotruf befürwortet das Angebot, fordert aber auch einen Ausbau. "Aus unserer Sicht ist es wichtig, dieses Angebot saarlandweit und flächendeckend in allen Landkreisen anzubieten." Gleichzeitig brauche es insgesamt mehr Sensibilisierung für das Thema vor allem in Berufsgruppen, die mit den Betroffenen in Kontakt kommen – wie Beschäftigte in Kliniken oder Polizeibeamte.
Unter keinen Umständen dürfe es zu einer Täter-Opfer-Umkehr, auch Victim Blaming genannt, kommen. "Wie bei anderen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt auch gibt es die Tendenz, die Verantwortung für Gewalterfahrungen bei den Betroffenen zu suchen", so Sapelkina.
Victim Blaming werde durch gesellschaftliche Strukturen begünstigt und erschwere es Betroffenen, sich Unterstützung zu suchen, über ihre Erfahrungen zu sprechen, sich mit anderen Betroffenen zu verbünden, Anzeige bei der Polizei zu stellen und das Erlebte überhaupt selbst als Unrecht einordnen und somit verarbeiten zu können.
Polizei rät zu Anzeige
Auch wenn es Opfern sehr schwerfällt, über die Tat zu sprechen, rät die Polizei dringend dazu, im Falle einer Vergewaltigung oder versuchten Vergewaltigung Anzeige zu erstatten. "Sie ist die Grundlage für ein Strafverfahren und somit für die Ermittlung, Strafverfolgung und Verurteilung des Täters oder der Täter", so Hasenberg. Tatsächlich hätten viele der 2021 und 2022 gemeldeten Fälle aufgeklärt werden können, wie die Zahlen zeigten.
Eine Strafanzeige können Betroffene bei jeder Polizeidienststelle erstatten, sagt Hasenberg. Dabei können sie sich auch von einer Person ihres Vertrauens bzw. einem Rechtsbeistand begleiten lassen. Zudem können sich Betroffene Unterstützung suchen bei Hilfseinrichtungen und Beratungsstellen. "Nahegelegene Hilfseinrichtungen kann ihnen die Polizei nennen und auch bei der Kontaktaufnahme helfen."
Hilfsangebote für Betroffene
Frauen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, können sich im Saarland etwa an den Frauennotruf wenden. Dies muss nicht mehr telefonisch oder persönlich passieren, die Beratungsstelle ist seit 2023 auch über eine Online-Plattform erreichbar. Auch die Frauenhäuser im Saarland sind zu jeder Zeit erreichbar. Ebenso das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen über die Rufnummer 116 016. Betroffene Männer erreichen das Hilfetelefon Gewalt an Männern unter der Nummer 0800 123 9900.
Eine Übersicht über Hilfsangebote im Saarland gibt es auch beim Sozialministerium.
Im Notfall gilt laut Polizeihauptkommissar Hasenberg aber: "Sollten Sie sich in einer akuten Gefahr oder Bedrohungssituation befinden, so wählen Sie den Notruf 110!".