Fast wäre er nach Dr. Franz Mai der zweite Intendant des Saarländischen Rundfunks geworden. Aber eben nur fast. Allerdings war seine Bewerbung auch nicht ganz ernst gemeint. Trotzdem: Wie aus einem jetzt aufgetauchten Abstimmzettel zur Intendantenwahl 1977 hervorgeht, führte er beim zweiten Wahlgang noch immer die Liste der insgesamt 17 Kandidaten an. Die Rede ist von Wilken F. Dincklage, der sich als Sänger „Willem“ nannte. Rund sieben Jahre lang prägte er mit viel Witz, Wissen und markanter Stimme diverse Musiksendungen auf der Studiowelle und der Eurowelle Saar des SR.
Von Frank Rainer Huck
Im Rahmen eines neuen Programmschemas gab es ab April 1972 auf der Studiowelle Saar in der Abendzeit von 19.45 bis 20.20 Uhr eine Reihe neuer Pop- und Jazzsendungen. Darunter montags, mittwochs und donnerstags die Sendung „Pop Corner“, die ich redaktionell zu betreuen hatte. Neue LPs aus dem Rock- und Popbereich wurden darin kritisch besprochen, deutsche und internationale Gruppen vorgestellt, sowie Themen und Trends aus der Szene in redaktionellen Beiträgen behandelt. In Ergänzung zu Manfred Sexauers „Hallo Twen« auf der Europawelle, wo überwiegend Titel von „Singles“ zu hören waren, spielten wir hier ausschließlich Musik von LPs, mitunter sogar längere Stücke von 15 bis 20 Minuten.
Auf der Suche nach guten Autoren für diese Sendung nannte mir ein Hamburger Kollege vom Jugendfunk des NDR den Namen: Wilken F. Müller, wohnhaft in Hamburg in der Willistraße. Der hatte gerade seine kaufmännischen Tätigkeiten (u. a. jobbte er als Teekoster) an den Nagel gehängt und begann eine Karriere als Musiker und Musikjournalist.
Zunächst schickte Wilken F. Müller mir die damals üblichen Tonbänder, die er beim NDR vorproduziert hatte. Seine erste Sendung für die „Pop Corner“ ging am 27. April 1972 über den Äther. Es war ein Porträt der vom ehemaligen SR-Tontechniker Conny Plank produzierten deutschen Elektronik-Rockgruppe „NEU“.
Ich war von Wilkens präziser Art, Interviews zu führen und dabei auch kritische Töne anzuschlagen, sehr angetan, und er wurde mein regelmäßiger freier Autor. Nach einigen Wochen kam er dann auch zum ersten Mal persönlich nach Saarbrücken und wir freundeten uns schnell an. Schwerpunkt seiner Porträts waren natürlich Gruppen und Musiker aus Hamburg. So stellte er zum Beispiel am 29. Juni 1972 die erste noch englischsprachige LP des damals 26-Jährigen kaum bekannten Udo Lindenberg vor. Er befragte ihn zu seinen Plänen für die Bildung einer deutschen Musikerszene. Daraus sollte sich dann die sogenannte „Hamburger Szene“ entwickeln.
Wilken war inzwischen von der Willistraße ans Rondeel umgezogen, im gleichen Hamburger Stadtteil Winterhude. Dort hatte er zusammen mit Conny Plank eine idyllisch gelegene alte Villa mit Zugang zum Rondeelteich gemietet und mit ihm die „Aamok“-Musikproduktionsgesellschaft und den „Kraut Musikverlag“ gegründet. Die Villa wurde bald bekannt als „Villa Kunterbunt“, weil Wilken dort eine Wohngemeinschaft gründete, in der zeitweise bis zu 14 Künstler, Produzenten und Journalisten wohnten. Das waren u. a. Udo Lindenberg, Gottfried Böttger und Lonzo Westphal, Marius Müller-Westernhagen, Otto Waalkes, dessen Manager Hans-Otto Mertens und der Journalist Günter Fink. Eine ganze Reihe von SR-Kollegen sind in dieser Villa später im Laufe der 70er Jahre zu Gast gewesen: Hermann Stümpert, Robert Hetkämper, Friedrich Hatzenbühler, Bernd Duszynski, und ich selbst natürlich auch.
Als zum 1. Oktober 1973 eine große Programmreform auf den damals nur zwei Hörfunkwellen des Saarländischen Rundfunks durchgeführt wurde, schlug damit auch die Geburtsstunde eines neuen Jugendmagazins auf der Europawelle Saar: der „Drugstore1421“. Hermann Stümpert und Robert Hetkämper hatten die Redaktion dieser Sendung, und ich kam als verantwortlicher Musikredakteur in das Team. Bereits in der Planungsphase schlug ich Wilken F. Müller als „Discjockey“ vor. Neben Bernd Duszynski und später auch Erich Werwie wurde Wilken so ein weiterer unverwechselbarer Musikmoderator dieser Sendung.
Den etwas „seriöseren“ Tonfall des Musikjournalisten, der in der „Pop Corner“ noch angebracht gewesen war, legte er im „Drugstore“ sehr schnell ab und entwickelte mit seinen flotten Sprüchen und frechen Kommentaren zu den Wortbeiträgen der Jugendfunk-Redakteure seinen eigenen Stil. Er hatte inzwischen auch seinen Nachnamen ändern lassen. „Weil in Deutschland schon ein paar Leute Müller heißen“, nannte er sich nach dem Mädchennamen seiner Mutter jetzt Dincklage.
Da der „Drugstore“ live moderiert wurde, lohnte es sich nicht, Wilken nur für einen Tag in der Woche aus Hamburg anreisen zu lassen. Also reservierten wir für ihn die zweite Wochenhälfte, und so kam er meistens am Donnerstag mit dem ersten Flug aus Hamburg nach Saarbrücken und flog erst am Samstagabend wieder zurück. Im Gepäck hatte er immer in einer großen Segeltuchtasche ein kleines rotes Klapp-Mofa. Es war ein Testmodell irgendeines großen Versandhauses. Wenn der große, gewichtige Schwarze morgens auf diesem kleinen Mofa auf den Halberg zum SR-Funkhaus knatterte, war das schon ein urkomischer Anblick. Und eben diese Selbstdarstellungs-Qualitäten nutzte der einfallsreiche Hermann Stümpert auch zur Außenwerbung für den „Drugstore 1421“. Es gab ein Faltblatt – einen Flyer, wie man heute sagt – in dem die „Drugstore-Typen“ vorgestellt wurden. Auf dessen Vorderseite prangte Wilken, auf seinem Mofa sitzend und ein kleines Kofferradio (das „mit der goldenen Europawellen-Taste“) schwenkend.
Zu den folgenreichen Einfällen von Hermann Stümpert gehörte auch, die Sendungen des „Drugstore“ mehr und mehr aus dem Studio „nach draußen“ zu verlagern. Schon zwei Monate nach Eröffnung des „musikalischen Gemischtwarenladens“ (wie es in einer Pressemitteilung hieß) fand eine Kurzreise mit Hörern nach London statt (30. 11. – 1. 12. 1973). Sie war mit dem Besuch eines Konzertes von „Rod Stewart and the Faces“ verbunden. Es folgten Live-Sendungen aus der „Fabrik“ in Hamburg (19. 1. 1974) oder vom Interfolk-Festival in Osnabrück (6. 4. 1974). Und immer mit dabei: Wilken, im schwarzen Outfit, mit schwarzem Hut, inzwischen unter dem Namen „Willem“ auch als Sänger bekannt geworden, denn seine erste Single war erschienen. Der Titel war eine Persiflage auf die vielen Seemannsschnulzen vom Typ „La Paloma“, im typisch schnoddrigen HamburgerTonfall: „Grüß mir den Herbert, Hein und Jan, und mach kein’ Scheiß mit Fred“.
Im Sommer 1974 tourte der „Drugstore“ erstmals an die Ostsee. Am Weißenhäuser Strand und im dortigen Kursaal wurden am 23. August zwei Sendungen aufgezeichnet und eine Woche später versetzt gesendet.
Auf der Rückfahrt machte der „Drugstore“ noch Station auf dem Altstadtfest in Hannover, und Wilken hatte Gelegenheit, mit Bruno’s Salonband ein paar heiße Bluestitel zu singen. So etwas machte er immer gerne, wenn eine Band live bei Außenveranstaltungen spielte – am liebsten natürlich in gewohnter Umgebung, weshalb er den „Drugstore“ immer wieder gerne nach Hamburg lockte. Eine Live-Sendung aus dem „Logo“ in der Hamburger Grindelallee vom 25. Januar 1975 hat sich im Archiv erhalten. Heute spürt man dort wenig vom alten Glanz, aber damals, Mitte der 70er Jahre, tobte hier die „Hamburger Szene“ und Wilken fühlte sich ganz in seinem Element.
Ab April 1976 gab es einige neue Sendungen im Programm der Europawelle Saar, darunter „Pop non Stopp“, montags bis samstags von 18.15 bis 19.00 Uhr. In diese „Sendeschiene“ wurde freitags die Hitparade „Die Europa-Elf“ integriert, die bislang Manfred Sexauer moderiert hatte. Diese „Europa-Elf“ gehörte nun auch zu Wilkens ständigen Sendungen, ebenso wie „Pop non Stopp“, das er meist donnerstags vor dem „Drugstore“ moderierte. Zuhause in Hamburg verfolgte er weiter seine Karriere als Musiker und produzierte unter seinem Künstlernamen „Willem“ und zusammen mit der „Rentnerband“ mehrere Langspielplatten und Singles. Mit der im Frühjahr 1977 veröffentlichten Single „Tarzan ist wieder da“ kam er dann sogar in die Hitparaden. Als Texter und Komponist seiner Songs hatte er sich auch noch die für ihn typischen Pseudonyme „Helmut Lob“ und „Lex Hudel“ zugelegt – das Autorengespann war also „Lob & Hudel“!
1977 war das letzte Amtsjahr des Intendanten Dr. Franz Mai, und schon im Frühjahr begann das Procedere um seine Nachfolge. So erschien im Februar 1977 auch in der Gewerkschaftszeitung „HFF“ der Rundfunk-, Fernseh- und Filmunion RFFU eine Stellenausschreibung für den künftigen Intendanten des Saarländischen Rundfunks. Spaßvogel „Willem“ nahm das zum Anlass, sich auf diese Stelle zu bewerben: „Mit großer Überraschung habe ich … gelesen, daß Sie in Gewerkschaftskreisen einen Intendanten suchen“, schrieb er an den „lieben Rundfunk“, und fuhr fort: „Für diesen mutigen Schritt ist Ihnen zu danken. … Hier bewirbt sich ein Mann in den besten Jahren, der schon heute, … für die „ MACHER UNTERWEGS“ das ,RADIO VON MORGEN‘“ macht.“ Als Anlage fügte er seine Hit-Schallplatte bei: „Tarzan ist wieder da!“
Seine Bewerbung wurde ganz offensichtlich ernst genommen, denn auf dem Stimmzettel zum zweiten Wahlgang des Rundfunkrates führt Wilken F. Dincklage die Liste der insgesamt 17 Bewerber an – wenigstens dem Alphabet nach. Sehr gerne hätte ich die Protokolle zu diesem Besetzungsverfahren eingesehen, aber leider sind die Akten des Rundfunkrates aus dieser Zeit nicht mehr erhalten. Immerhin hat Wilkens Frau Elke Dincklage eine Kopie des Bewerbungsschreibens ihres Mannes aufgehoben und konnte mir auch noch einen originalen Stimmzettel aus dieser Wahlsitzung des Rundfunkrates zur Verfügung stellen.
Wie wir wissen, wurde an diesem 15. Juli 1977 Prof. Dr. Hubert Rohde mit Zweidrittelmehrheit zum neuen SR-Intendanten gewählt. An diesem „schicksalsschweren“ Tag, als über seine weitere Zukunft entschieden wurde, befand sich „Willem“ allerdings längst auf seiner Spaßtour durch die Bäder an der Nord- und Ostsee: Am Timmendorfer Strand machte er an diesem Tag zusammen mit der Schlagersängerin Su Kramer für die Europawelle eine Live-Sendung seiner „Europa-Elf“.
Der Einfallsreichtum von Hermann Stümpert hatte nämlich mal wieder zugeschlagen und ihn die Sendung „Willem’s großer Radiospaß“ zusammen mit der Programmzeitschrift „HörZu“ erfinden lassen. Zwei Monate lang kamen freitags und samstags die Sendungen „Pop non Stopp“, „Europa-Elf“ und „Drugstore 1421“ aus Bade- und Kurorten entlang der deutschen Nord- und Ostseeküste. Schlager-Stars traten live auf, die Zuschauer konnten sich bei Spielen amüsieren und überdies viel gewinnen. Eine Sendung ganz nach dem Geschmack des großen Schwarzen aus dem Norden, der sein kleines rotes Mofa inzwischen längst eingemottet hatte und stattdessen im nächsten Jahr auf einer ähnlichen Spaßtour mit einem 8-Zylinder Chevrolet Blazer das „Drugstore“-Team über die Insel Mallorca kutschierte. Das Foto zeigt das „Drugstore“-Team mit Star-Gästen auf Mallorca im Juni 1978 (zum Vergrößern bitte anklicken). Von links: Norbert Klein, Hermann Stümpert, Schlagersängerin Esther Daniels, NN, Schlagersängerin Gilly Mason, Wilken F. Dincklage und SR 1-Moderator Volkmar Lodholz (liegend).
Nach dieser erneuten Bädertour im Sommer 1978 kam für Wilken alias „Willem“ so langsam der Abschied von der Europawelle. Hermann Stümpert war Unterhaltungschef der Europawelle geworden, Norbert Klein hatte die Redaktion des „Drugstore“ übernommen, neue Sprecherinnen und Sprecher prägten die Sendung: Brigitte Weyrich und Petra Müller, Rainer Cabanis und Torsten Pietkiewicz. Am 5. Oktober 1978 war Wilken zum letzten Mal im „Drugstore“ zu hören. Er moderierte dann noch bis zum Jahresende donnerstags „Pop non Stopp“ und freitags die „Europa-Elf“, aber am 29. 12. 1978 verabschiedete er sich für immer von den Mikrofonen der Europawelle Saar.
In Norddeutschland machte er weiter Karriere als Musiker und Moderator für den NDR, wo er z. B. für die Welle Nord „Die Norddeutschen Top Fofftein“ moderierte. Nach der Wende arbeitete er noch wenige Jahre für die „Antenne MV“, den ersten Privatsender in Mecklenburg-Vorpommern. Am 18. Oktober 1994 starb Wilken F. Dincklage im Alter von 52 Jahren an einer Lungenembolie.
Die Europawelle Saar hatte im Laufe der Jahre viele markante, prominente und beliebte Sprecher. Wilken F. Dincklage alias „Willem“ aber war im besten Sinne des Wortes ein „Original“.
Redaktion für den Arbeitskreis SR-Geschichte: Axel Buchholz (ab); Mitarbeit: Elke Dincklage, Michael Fürsattel, Eva Röder (Gestaltung/Layout), Hans-Ulrich Wagner, Roland Schmitt (Bilder/Recherche)