Revolutionary Rhythms
Neue CD mit Ballettmusik von Strawinsky, Prokofjew & de Falla
Karel Mark Chichon war von 2011 bis 2017 Chefdirigent der Deutschen Radio Philharmonie, mit der er vom Publikum gefeierte und von Kritikern gelobte Spielzeiten erlebt hat. Ein großartiges Resultat dieser Zeit ist die vorliegende Aufnahme mit Werken von Strawinsky, Prokofjew und de Falla. Allesamt Ballette, deren Rhythmen damals enorm modern, geradezu revolutionär wirkten und die Tänzer bei der Koordination ihrer Bewegungen ziemlich viel zu lernen hatten.
Titelliste
Igor Stravinsky (1882–1971)
Der Feuervogel (Suite, Fassung von 1919)
- 1. Introduktion (attacca)
- 2. Tanz des Feuervogels
- 3. Variationen des Feuervogels
- 4. Rondo der Prinzessinnen
- 5. Höllentanz des Königs Kastschei
- 6. Berceuse Feuervogel (attacca)
- 7. Finale
Sergej Prokofjiew (1891–1953)
Romeo und Julia, Auszüge aus den Suiten Nr. 1 & 2
- 8. Die Montagues und Capulets, Nr. 1 aus der zweiten Suite
- 9. Julia, das kleine Mädchen, Nr. 2 aus der zweiten Suite
- 10. Madrigal, Nr. 3 aus der ersten Suite
- 11. Menuett, Nr. 4 aus der ersten Suite
- 12. Maskentanz, Nr. 5 aus der ersten Suite
- 13. Romeo und Julia, Nr. 6 aus der ersten Suite
- 14. Tybalts Tod, Nr. 7 aus der ersten Suite
- 15. Romeo am Grabe Julias, Nr. 7 aus der zweiten Suite
Manuel de Falla (1876–1946)
Der Dreispitz, Auszüge aus der Suite Nr. 2
- 16. Tanz der Nachbarn (Seguidillas)
- 17. Tanz des Müllers (Farruca)
- 18. Schlusstanz (Jota)
Auszug aus dem CD-Booklet:
Michael Kube - Zwischen Bühne und Konzertsaal
Viel zu oft wird vergessen, dass hinter so manch sinfonischer Suite ursprünglich eine mehrteilige Schauspielmusik, ein Filmscore oder ein Ballett stand. An eine vielfach abendfüllende tragische oder komische Geschichte gebunden, hatten viele Komponisten (und natürlich auch geschäftstüchtige Verleger) ein Interesse daran, zumindest musikalische Auszüge einer solchen groß angelegten Produktion auf lange Sicht in den Konzertsaal zu überführen – man denke nur an die beiden Peer-Gynt-Suiten von Edvard Grieg (zusammengestellt aus einer Schauspielmusik), die Nussknacker-Suite von Peter Tschaikowsky (mit Nummern aus dem Ballett) oder die Ben-Hur-Suite von Miklós Rósza (mit den charakteristischsten Themen aus dem gleichnamigen Film). Wo wie hier der Fokus ganz zur Musik hin verschoben wurde, haben sich die Suiten als eigenständige rein musikalische Werke verselbständigt, deren Hintergrund erst wieder neu zu entdecken ist.
So auch bei L’oiseau de feu (1910) von Igor Strawinsky, der in seinen Lebenserinnerungen über die Komposition unverblümt bemerkte, sie sei für ihn „thematisch völlig uninteressant. Wie alle Handlungsballette erforderte es eine deskriptive Musik, wie ich sie eigentlich nicht schreiben wollte.“ Dennoch steht die Partitur am Beginn einer Reihe von Ballettmusiken, die innerhalb nur weniger Jahre für Sergej Diaghilew und dessen berühmte Ballets russes entstanden – dicht gefolgt von Petruschka (1911) und dem Sacre du printemps (1913), dessen Uraufführung als einer der großen Skandale in die Musikgeschichte einging. Mit dem L’oiseau de feu hingegen war Strawinsky in Paris und weit darüber hinaus von Anfang an erfolgreich, gerade weil er mit seiner scharf zugespitzten Tonsprache die als überkommen empfundenen romantischen Traditionen durchbrach. So warf man etwa den schon damals zum Kernrepertoire zählenden Balletten Tschaikowskys eine sinfonische Überfrachtung der Instrumentation und eine zu starke musikalische Durchbildung der Partitur vor – Aspekte, die kurioserweise rückblickend auch von Strawinsky für sich in Anspruch genommen wurden. Sie finden sich bei ihm freilich im Kontext eines mehr rhythmisch als melodisch geprägten Verlaufs wieder, der mit Blick auf das zugrunde liegende, auf einem in Russland weithin bekannten Märchen basierende Szenario Extreme der Harmonik auslotet – ganz so, wie dies Strawinsky selbst beschreibt: „All das, was den bösen Kastschej betrifft, alles was […] magisch und geheimnisvoll, besonders oder natürlich ist, wird in der Musik durch Leitharmonien charakterisiert. Im Gegensatz zu der chromatischen magischen Musik, ist das sterbliche Element (Prinz und Prinzessin) verbunden mit einer charakteristischen Musik des diatonischen Typus.“ Daneben werden in der Suite von 1919 auch die einzelnen Handlungsträger in unterschiedlichen Klangfarben dargestellt: Kastschej durch unheimliche, tiefe und verstellte Klänge in den Posaunen und Holzbläsern, der Feuervogel durch helle Farben in den Bläsern und Streichern, kombiniert mit Harfe, Celesta, Xylophon; Prinz und Prinzessin jedoch durch folkloristische Musik. Der Berceuse kommt eine dramaturgische Schlüsselstellung zu: Der Feuervogel lullt Kastschej nach dessen wildem Höllentanz in einen betäubenden Schlaf ein, aus dem er nur noch zum Sterben erwacht.
Erst über zwei aus einzelnen Nummern zusammengestellte Suiten konnte Sergej Prokofjew den Weg zu einer Inszenierung seines dreiaktigen Balletts Romeo und Julia aus dem Jahre 1935 bahnen. Dieser „Umweg“ über den Konzertsaal war insofern notwendig geworden, als das Leningrader Kirow-Theater zu dem Werk auf Distanz gegangen war und das Moskauer Bolschoi-Theater diese Shakespeare-Adaption für „nicht tanzbar“ gehalten hatte. Erst drei Jahre später gelang es Prokofjew, das Ballett im tschechischen Brünn auf die Bühne zu bringen. Dabei hatte er bei der Erstellung des Szenariums bereits an die speziellen Erfordernisse der Gattung gedacht – freilich in idealisierter Weise, denn er favorisierte für das Finale zunächst ein Happy-End: „Wir haben damals in zahlreichen Diskussionen Versuche unternommen, einen glücklichen Ausgang für Romeo und Julia zu finden – im letzten Akt sollte Romeo eine Minute früher ankommen und Julia noch lebend antreffen, so dass alles gut geendet hätte. Die Gründe, die uns zu dieser Barbarei veranlassten, waren rein choreographischer Natur: Lebendige Menschen können tanzen. Sterbende tanzen nicht im Liegen.“ Der Wunsch nach einer lyrischen Versöhnung aller Protagonisten und das frühe Scheitern dieser Überlegungen lassen aber noch einen ganz anderen Blick auf das Werk zu. Bedenkt man das politische Umfeld, so wirkt die Liebesgeschichte in Prokofjews Vertonung wie eine Parabel auf das von Stalin in der Sowjetunion installierte System aus Angst, Unterdrückung und Gewalt – ein System, in dem Gefühle keinen Platz hatten, ganz wie in den rivalisierenden Familien der Montagues und Capulets: Um an einem Ball im Hause der Capulets teilnehmen zu können, maskieren sich Romeo und sein Gefolge, der allerdings sein bevorstehendes Schicksal ahnt: „Denn mein Herz erbangt und ahnet ein Verhängnis“ (1. Aufzug, 4. Szene). Nur kurze Zeit später hat die junge Leidenschaft bereits den Balkon erobert – mit süß bebenden Liebesschwüren: „Der Liebe leichte Schwingen trugen mich; / Kein steinern Bollwerk kann der Liebe wehren; Und Liebe wagt, was irgend Liebe kann.“ (2. Aufzug, 2. Szene). Doch Unheil bahnt sich an: Als Tybalt an Romeo Rache nehmen will, wird zunächst der sich ereifernde Mercurio getötet, schließlich Tybalt selbst durch Romeos Hand (3. Aufzug, 1. Szene). Am Ende des Dramas steht Romeo schließlich vor Julias vermeintlichem Sarg, voller Schmerz sich selbst vergiftend: „O wackrer Apotheker! Dein Trank wirkt schnell. – Und so im Kusse sterb ich.“ (5. Aufzug, 3. Szene).
Auch Manuel de Fallas Ballett El sombrero de tres picos (Der Dreispitz) wurde erstmals durch die Ballets russes mit einer Choreographie von Léonide Massine aufgeführt; für die Inszenierung im Londoner Alhambra-Theater gestaltete Pablo Picasso den Vorhang, die Kostüme und das Bühnenbild. Das Szenarium der 1919 vollendeten Partitur basiert auf einer heiteren Novelle, in der ein Corregidor eine schöne Müllerin begehrt, durch diese jedoch öffentlich bloßgestellt wird. Parallel zur Drucklegung der Ballettpartitur (1921) erschienen auch zwei Suiten für den Konzertgebrauch, die deutlich machen, dass trotz der Nähe zum französischen Impressionismus de Falla weit eher auf die Kraft und den Ausdruck der exotisch anmutenden Skalen und Rhythmen spanischer Weisen und Volkstänze setzt.