Ich und Ludwig Harig – nein – Ludwig Harig und ich
Georg Bense zu seinen Filmen über Ludwig Harig
Einer der SR-Mitarbeiter, die Ludwig Harig am längsten kennen, ist der Filmemacher Georg Bense. Zu seinen zahlreichen Fernsehfilmen zählen auch mehrere über Ludwig Harig. Für „Fundstücke“ schrieb er Erinnerungen daran auf.
Von Georg Bense
Schnecken auf der Schmelz
Der erste Saarländer, den ich kennen lernte, war Ludwig Harig. Eine Bekanntschaft, die zumindest in beruflicher Hinsicht für mich weit reichende Folgen hatte. Es war Anfang der sechziger Jahre, als Ludwig Harig mit seinem Freund Eugen Helmlé uns in Stuttgart besuchte. Mit meinem Vater, der damals die literarische Zeitschrift „augenblick“ herausgab, trafen sie sich, sprachen und diskutierten über Raymond Queneau und Gertrude Stein, über konkrete Poesie – und über das Saarland. Das Land, in dem Kohle und Eisen den Takt vorgaben, war damals für mich eine große Unbekannte. Das änderte sich, als Harig sich nach meinem Berufswunsch erkundigte. Filmemacher, Kameramann, Fernsehregisseur. Genauer wusste ich es nicht. „In Saarbrücken wird das Fernsehen aufgebaut, man braucht junge Talente.“ Eine derart optimistische Perspektive begeisterte mich. Ich folgte der Verlockung.
Nach ersten Eindrücken ernüchtert, wollte ich den SR, SR sein lassen, und – bin heute 48 Jahre Wahlsaarländer. Das wäre mir ohne Harig nicht passiert. Durch ihn und seine Freunde, vor allem den Maler Hans Dahlem, entdeckte ich die Besonderheiten des Länderwinzlings im deutschen Südwesten. Den Charme einer internationalen Provinz mit nahen Wegen nach Luxemburg, Straßburg, Nancy, Metz. Und hinter dem Horizont – Paris, nicht allzu fern.
In diesem fast halben Jahrhundert bin ich Ludwig Harig immer wieder begegnet. Beruflich und privat lernte ich viel saarländische Freude kennen. Das fing beim Essen an. Bei einer der ersten Einladungen im Elternhaus seiner Frau Brigitte, Auf der Schmelz 19, in Sulzbach, wo es mit Schnecken kulinarisch zur Sache ging. Für einen Migranten aus dem Maultaschenland eine harte Herausforderung. Damals, Anfang der sechziger Jahre, begann Harigs Stern über den heimatlichen Grenzen empor zu steigen, was ihm die Aufmerksamkeit der einheimischen Medien sicherte. Als Kamerareporter des SR gehörte ich dazu.
Mit List und Übertreibung der Wichtigkeit Harigs gelang es mir, einen ersten Filmauftrag über ihn zu bekommen. In Stuttgart las er in Niedlichs Buchhandlung aus der TASCHENKOSMOGONIE von Raymond Queneau, einem Poem, das er aus dem Französischen übersetzt hatte. Ausgestellte Tuschzeichnungen seines Freundes Hans Dahlem zum selben Thema bildeten den Hintergrund. Mein Film, rabiat in den Kamerabewegungen und gewagt hart montiert, wurde vier Minuten lang. Ein Dokument früher „Fernsehkunst“, wie ich dachte. Karl Heinz Reintgen, damals Leiter des Regionalprogramms, schaute das Werk wortlos an. Dann: „Ja Harig – da müssen wir neue Wege gehen“. Und es ging weiter. Immer wieder hatte ich den großen Spaß an der Freude, Harig ins, meiner Meinung nach, richtige Bild zu setzen.
Immer war Harig ein williger, freundlicher, witziger und klar denkender Dichterkopf, ein prägnant formulierender Interviewpartner. „Wie lange soll ich sprechen? – Gut 2 Minuten.“ Dem Fernsehen stand er interessiert und wohlwollend gegenüber. Nicht alle Dichter und Denker waren so genormt. Martin Walser soll sich geweigert haben, lesend auf einem Dachfirst Platz zu nehmen und Heinrich Böll wollte angeblich nicht im Interesse seiner Worte und Sätze durch einen Bach waten.
Derartiger Medienunfug wurde Harig von mir nie zugemutet. Dafür technische Pannen in Hülle und Fülle, wenn die Klappe nicht im Bild war, der Tontechniker mit Steckern und Kabeln haderte und die legendäre Arriflex 16 mm Filmsalat produzierte. Harig ertrug alles mit Gleichmut. Pfiff gut gelaunt vor sich hin. Einmal war es die Titelmelodie aus „Spiel mir das Lied vom Tod“. Und er pfiff so westernlike, dass wir es vor der Kamera wiederholten und in den Film einschnitten.
Harigs Texte, z. B. „Das ABC von Fénétrange“ waren Anlass für „ Verfilmungen“, die ich optische Interpretationen nannte und als Versuch wertete, Literatur für das Fernsehen umzusetzen. Die Ergebnisse der Verfilmungen hat er sich meistens genau angeschaut und … geschwiegen. Ob aus Verblüffung über die Bildäquivalente oder die Verkennung seiner Literatur, ich bin nie dahinter gekommen. So entstanden „Tief unten windet sich die Saar“, gedreht und geschnitten nach einem von ihm entwickelten Permutationsschema, ein Experiment, das zu produzieren keinem Fernsehredakteur mehr in den Sinn käme, „Bordeaux Notation einer Stadt“ (nach „Die Reise nach Bordeaux“) und „Man kann nicht mehr auf allen Vieren gehen“. Der Film entstand auf Grund seines Rousseau-Romans, anlässlich einer Reise auf dessen Spuren, die Harig mit dem Fotografen Gerd Ludwig im Auftrag des Zeitmagazins unternahm. Das war … – damals, zu einer Zeit, als die Kultur im Fernsehen noch in voller Blüte stand.
Georg Bense
gehörte zum Redaktionsteam der kulturpolitischen Zeitschrift für das Saarland "Saarbrücker Hefte". Von 1963 bis 2003 arbeitete er als Filmemacher (Autor, Regisseur, Kameramann) vorwiegend für den Saarländischen Rundfunk. Seine Filme zu Themen aus dem kulturellen Leben zeichneten sich häufig durch originelle Herangehensweise und Experimentierfreudigkeit aus. Er drehte u. a. filmische Porträts von Ludwig Harig, von dem aus Merzig stammenden Schriftsteller Gustav Regler und den in Saarbrücken geborenen Filmregisseuren Max Ophüls und Frédéric Back. Er regte die Kultur-Reise-Reihe "Fahr mal hin" an und drehte die ersten Folgen.
Georg Bense wurde in Köln geboren und wuchs in Stuttgart auf. Sein Vater war der Philosoph Max Bense, Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Stuttgart. Er lehrte u. a. mathematische Ästhetik und gilt als Begründer der "Stuttgarter Schule", die sich vor allem mit Konkreter Poesie befasste. Zu ihr zählte auch Ludwig Harig. (ab)
Redaktion für den Arbeitskreis SR-Geschichte: Axel Buchholz; Mitarbeit: Thomas Braun, Sven Müller und Roland Schmitt