Eins stellt Horst Schimpf sofort klar: Die sogenannte „Rundfunkspielschar“ war eigentlich die „HJ-Spielschar“ beim Reichssender Saarbrücken. „Wir waren eine Formation der Hitler-Jugend, so wie es auch andere gab“, sagt er mit Nachdruck. Und Horst Schimpf weiß das aus eigener Erfahrung. Als „Pimpf“ im „Jungvolk“ (der jüngsten HJ-Gliederung) sang er mit im Chor der Spielschar. Ein Orchester und ein Laienspielensemble gehörten außerdem noch dazu. Insgesamt waren es rund 30 Mitwirkende.
Von Axel Buchholz
Den Rundfunk, den es seit 1935 erstmals auch an der Saar gab, hörte Horst Schimpf (geb. am 17.12.1928) nicht nur, er hatte ihn auch regelmäßig vor Augen. Auf seinem Schulweg entlang der Saarbrücker Hohenzollernstraße kam er täglich zweimal am „Haus der Arbeiterwohlfahrt“ (Hohenzollernstr. 45) vorbei. Die Nationalsozialisten hatten es requiriert und dem Reichssender zur Verfügung gestellt.
Hier wurden dann nach und nach immer mehr Sendungen produziert, vor allem die größeren. Der Kinderfunk, Programme der Spielschar, das Unterhaltungsprogramm „Sperlings Bunte Bühne“, Hörspiele und Konzerte mit klassischer, volkstümlicher und Militärmusik gehörten dazu. Oft waren es auch Live-Sendungen wie die Mittagskonzerte.
Die kleineren und tagesaktuellen Programme entstanden in der Zentrale des Reichssenders Saarbrücken in der „Villa am Staden“ (damals Eichhornstaden). Ins Funkhaus in der Hohenzollernstraße kam Horst Schimpf aber erst, nachdem er bei „Tante Käthe“ im Kinderfunk des Reichssenders mitmachen durfte. „Heil Hitler, Tante Käthe“ sagte er da zu Programmbeginn mit den anderen Kindern, nachdem sie von Käthe Glaser zuvor mit „Heil Hitler, liebe Kinder“ begrüßt worden waren. Ansonsten sang er meistens. Inzwischen zehn Jahre alt geworden, entwickelte sich daraus dann seine Mitgliedschaft in der Rundfunkspielschar. Beide Male half dabei Fritz Grebe mit, einer seiner Mittelschul-Lehrer, mit dessen Sohn Walter er befreundet war.
Grebe war einer der beiden Leiter der Spielschar, ebenso ein höherer HJ-Führer (also linientreuer Nationalsozialist) wie der andere Leiter auf der Seite des Rundfunks. Beim RS Saarbrücken wurde dafür 1938 Josef Reichert als Leiter des Sachgebiets Jugendfunk eingestellt (vgl. „Der Rundfunk“, Juli 1938). Er war für die Programmarbeit durch die Rundfunkspielschar verantwortlich, die die „praktische und sendereife Gestaltung in musikalischer und dichterischer Hinsicht leisten“ sollte (Beitrag „Die Hitlerjugend im Rundfunk“ im „Amtlichen Führer“ für die 12. Große Deutsche Funkausstellung“ 1935 in Berlin; Schirmherr: Propagandaminister Goebbels).
Im Auftrag des „Reichsjugendführers“ waren schon ab 1934 (also ein Jahr nach Beginn der Herrschaft der Nationalsozialisten) „HJ-Funkleiter“ eingesetzt worden. Im „Amtlichen Führer“ für die Funkausstellung 1935 liest sich das so: „Im Verlauf der Umgestaltung des deutschen Rundfunks zum nationalsozialistischen Volksfunk rückte auch der Nachwuchs der Bewegung, der in der Hitler-Jugend organisiert war, in dieses Instrument ein.“ Die „HJ-Funkleiter“ sollten auf „der Sendeseite die praktische Gestaltung der HJ-Funkarbeit … betreuen.“ Welchen Zweck die hatte, findet sich dort ebenfalls: „… die Funkarbeit an den Sendern, die im wesentlichen Schulungs-, Kultur- und politische Erziehungsarbeit ist, in den Dienst der allgemeinen Erziehung der HJ zu stellen …“ Als „eine direkte Verquickung von Parteiorganisation und Rundfunk“ bezeichnete das die Geschichtsdozentin Prof. Dr. Daniela Münkel, die länger über den Rundfunk im Nationalsozialismus und den damaligen Jugendfunk geforscht hat.
Horst Schimpf freilich sah das als Junge ganz pragmatisch. Die Mitgliedschaft erst im Jungvolk und ab 14 Jahren in der Hitlerjugend galt ohnehin als unvermeidbar. Grundsätzlich war er auch nicht dagegen. Allerdings lag ihm der vormilitärische Drill mit Marschieren und Strammstehen nicht. Genau das musste er bei der Spielschar auch nur selten. Singen konnte und wollte er. Hinzu kamen der Reiz der Arbeit beim damals besonders wichtigen Radio und interessante Reisen im gesamten noch nicht offiziell gegründeten „Gau Westmark“, der das Saarland, die bayerische Pfalz und Lothringen umfasste.
Diese Reisen hat Schimpf bis heute gut im Gedächtnis. Wenn er davon erzählt, wird schnell eine zusätzliche Aufgabe des Reichssenders Saarbrücken und seiner Spielschar klar: die sogenannte Volkstumsarbeit im seit 1940 unter deutscher Zivilverwaltung stehenden Lothringen. Das sollte ja, wie zwischen 1871 und 1918, wieder deutsch werden. Bei den dort verbliebenen Lothringern und neu angesiedelten Deutschen sollte das Bewusstsein für die deutsche „Volksgemeinschaft“ geweckt und gestärkt werden. „Da sangen wir nie politische Lieder“, berichtet Schimpf, „nur alte deutsche Volkslieder und kulturell Anspruchsvolles“. Diese Veranstaltungen fanden in großen Sälen statt, im Sommer auch draußen. Der Eintritt war frei. Zu Beginn hielt Josef Reichert eine kleine Ansprache, auch die vordergründig unpolitisch. Am Ende wurde oft das von Johannes Brahms vertonte Wiegenlied „Guten Abend, gute Nacht“ gesungen, manchmal zusammen mit den Besuchern.
Auch viele der Auftrittsorte in Lothringen kann Schimpf noch aufzählen: St. Avold, Château Salins, Creutzwald, Dieuze, Thionville (Diedenhofen) und Faulquemont. Sogar in Metz seien sie gewesen. Dort allerdings nur als Claqueure für einen großen Auftritt von Propagandaminister Goebbels.
„Die Auftritte sind immer gut angekommen,“ erinnert sich Schimpf. Übernachtet habe man in Privatquartieren oder Scheunen und sei oft auch mit Wurst oder Käse für Zuhause bedacht worden: „Ein großes Geschenk in Kriegszeiten, in denen es vieles nicht mehr gab.“ Nicht selten habe ein Teil der Reise zum Auftrittsort auch mit Pferdefuhrwerken stattgefunden.
Die Jungen trugen schwarze Hosen und normale Hemden, die Mädchen vom „Bund Deutscher Mädel“ schwarze Röcke und weiße Blusen. „Im Ausland sind wir nicht in HJ- oder BDM-Uniform aufgetreten. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, dass wir für das ,Dritte Reich‘ Propaganda machen.“
Auch wenn Schimpf diese Hintergründe der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik damals natürlich nicht durchschaut hat, aufgefallen ist ihm schon, dass sie nur im Saarland und in der Pfalz in Uniform aufgetreten sind und dann auch politische Lieder gesungen haben. Welche denn zum Beispiel? Der Antwort auf diese Frage weicht Schimpf aus: „Daran erinnert man sich nicht so gern. Die habe ich verdrängt.“ Gut verständlich, angesichts der Titel dieser Lieder wie zum Beispiel „Ein junges Volk steht auf“, „Heilig Vaterland“, „Auf hebt unsere Fahnen“, „Deutschland – heiliges Wort“ oder das „Horst-Wessel-Lied“. „Ganz überwiegend sind aber Volkslieder gesungen worden“, sagt Schimpf. Darauf habe Reichert geachtet, schon weil die auch besser angekommen seien beim Publikum.
Mit dem sogenannten „Schwertwort" wurde der Nachwuchs des Jungvolks verpflichtet: „Jungvolkjungen sind hart, schweigsam und treu. Jungvolkjungen sind Kameraden. Des Jungvolkjungen Höchstes ist die Ehre.“ Solcherart ritualisierte Erziehung zum Nationalsozialismus spielte bei der Spielschar aber eine geringere Rolle als sonst bei HJ und Jungvolk. „Statt der üblichen Heimabende und Geländeübungen hatten wir meist unsere regelmäßigen Proben oder Radio-Aufnahmen, zwei- bis dreimal die Woche im großen Saal des Funkhauses in der Hohenzollernstraße.“ Dazu kamen in der Regel dann am Wochenende die Auftritte, oft verbunden mit langen Reisen.
Horst Schimpf war zudem noch der Notenwart, was zusätzliche Nachmittagsarbeit im Funkhaus bedeutete. „Ich war gut ausgelastet, aber es hat auch viel Spaß gemacht und ich habe viel gelernt.“ Das kam nicht von ungefähr. Jugendfunkleiter Josef Reichert, den Schimpf vor allem als künstlerischen Leiter empfand, hat auf Qualität geachtet, auch fast immer selbst dirigiert. Schließlich waren die Spielschar-Lieder und Musikstücke Teil des Radio-Programms und wurden zusammen mit professionellen Darbietungen gesendet. „Deshalb hatten wir in der Spielschar auch eine ganze Reihe Älterer, die schon Musik oder auch Schauspiel studierten“.
Nach dem großen Bombenangriff auf Saarbrücken im August 1944 konnte die Spielschar ihre Arbeit nicht mehr fortsetzen. Ihr Leiter Josef Reichert war da bereits zur Wehrmacht eingezogen. Sein Stellvertreter Grebe hatte die Leitung übernommen. Reichert arbeitete ab 1947 wieder für Radio Saarbrücken und anschließend für den Saarländischen Rundfunk. Er leitete unter anderem die Ressorts Kirchen- und Heimatfunk sowie Chor- und Volksmusik.
Nur noch wenige Erinnerungen an ihre Zeit bei der Spielschar haben zwei weitere spätere Mitarbeiter von Radio Saarbrücken und dem Saarländischen Rundfunk. Albert C. Weiland, lange Hörfunk- und auch Fernseh-Unterhaltungschef, weiß praktisch nur noch eins genau: Warum er „rausgeflogen“ ist. Schuld daran war eine junge Dame namens Emmy. Sie brachte der junge Albert abends nach Proben regelmäßig nach Hause. Auch noch, nachdem ihm das von Reichert streng untersagt worden war. Weitere Folgen hatte der Ausschluss nicht. Wenn man mal davon absieht, dass Weiland seinen späteren langjährigen Radio-Kollegen stets als „besonders sittenstreng“ in Erinnerung behielt.
Auch Ernst Becker (Jahrgang 1924), später Ton-Ingenieur bei Radio Saarbrücken und dem SR (1952 – 1985), schied nicht gerade „ehrenvoll“ aus der HJ aus. Seine Pimpf-Zeit in der Spielschar war da schon vorbei. Schuld waren seine grünen „Führungsschnüre“ als Scharführer, die er sich wütend vom Uniformhemd abriss und seinem Gefolgschaftsführer vor die Füße warf. Der hatte ihn nach seinem Empfinden allzu barsch gemaßregelt, nur weil er sich weigerte, Freikarten für ein Sinfonie-Konzert im damaligen Saarbrücker „Gautheater“ (heute Staatstheater) anzunehmen. Kurzfristige Folgen hatte auch dies nicht, längerfristige schon. Viel später als Soldat an der Ostfront erreichte ihn ein Brief seines Cousins. Sie alle hätten einen schönen Tag im Burbacher Metropol-Filmtheater gehabt, als sie geschlossen in die Partei aufgenommen worden seien. Er, Ernst, allerdings leider nicht, weil er ein „zu schlechter Hitlerjunge“ gewesen sei.
Horst Schimpf war, wie viele im Grenzgebiet, ab 1944 umgesiedelt und erlebte das Kriegsende in Thüringen. Jahre später konnte er beim Nachfolgesender Radio Saarbrücken wieder Rundfunkluft schnuppern. Er begann im neuen Funkhaus „Wartburg“ in der Verwaltung. Das machte er mit einer längeren Unterbrechung bis 1991, als er dann beim Saarländischen Rundfunk auf dem Halberg als „Leiter der Betriebsverwaltung“ ausschied. So hatte denn die „Spielschar“ mit ihm tatsächlich eine ihrer Aufgaben erfüllt: nämlich Nachwuchs für die Rundfunkarbeit heranzuziehen. Von nationalsozialistischer Indoktrination war er allerdings durch den Krieg und die Nachkriegszeit für immer geheilt.
Redaktion für den Arbeitskreis SR-Geschichte: Axel Buchholz (ab); Mitarbeit: Sven Müller, Eva Röder, Roland Schmitt und Jürgen Nieser, Arbeiterwohlfahrt