Yasmina Reza: „Die Rückseite des Lebens“.
Neben ihren Erfolgsstücken, mit denen sie die Theater-Bühnen der Welt eroberte, schuf sich die französische Erfolgsautorin Yasmina Reza eine treue Fan- und Lesergemeinde. Peter Henning hat ihr neues Buch "Die Rückseite des Lebens" gelesen.
Die effektvolle Schilderung gehobener Pariserischer Kammerspiele machte sie berühmt: die lustvolle Inszenierung privater Weltkriege auf 140 Quadratmetern als Gefühls-und Gedankengemetzel.
Für ihr neues Buch „Die Rückseite des Lebens“ hat die inzwischen 65-jährige französische Erfolgsschriftstellerin Yasmina Reza Schwur- und Strafgerichtsprozesse besucht, um jene zu studieren, die sich für ihre aus Niedertracht, Frustration oder jahrelang aufgestauter Wut begangenen Taten öffentlich zu verantworten haben. Menschen wie die in der Erzählung „Verzweiflung“ angeklagte Dalila.
Am 3. August 2021 hat Dalila in der Metrolinie 13 Richtung Châtillon ein kleines Gemetzel angerichtet. Sie hat einem jungen schwarzen Lieferanten ein Messer in den Brustkorb gerammt und ihn mit rassistischen Beleidigungen überschüttet, hat einem weißen Koch, der sich dazwischenwarf, die Hand aufgeschlitzt und einer sechsundsiebzig Jahre alten Frau, die das Pech hatte, gerade dort zu sitzen, das Knie zerschnitten.
Yasmina Rezas neues Buch versammelt von abgründiger Lakonik gekennzeichnete Erzählungen vom beschädigten Leben; tiefenscharfe Nahaufnahmen von Menschen, die oft unbeholfen um Erklärungsversuche für ihre Taten ringen - und die Schuld dafür meist bei den andern sehen: bei den gewalttätigen Vätern und drogensüchtigen Müttern, den hinterhältigen angeblichen Freunden und untreuen Frauen. Darüber rückt die Autorin eine Gesellschaft ins Bild, die als Solidargemeinschaft versagt hat; ihre am Einzelnen begangenen Versäumnisse delegiert sie an Gerichte, die mit fragwürdigen Schnellverfahren sanktionieren, was sich anders nicht mehr beantworten lässt.
Dalilas Anwalt fasst sich kurz…Es folgen ein paar Überlegungen zum Recht darauf, ein besserer Mensch zu werden. Er hat keine Zeit. Die Leute im Saal warten auf den nächsten Fall. Und auf den übernächsten. Im kleinen Raum des Strafgerichts holt man nicht aus. Man hat keine Zeit, zurückzublicken und die Geschichte von Dalilas dunklem, zerklüftetem Gesicht genauer zu ergründen.
In einer Story des Amerikaners Raymond Carver heißt es: „Ein Mann kann sich immer an die Regeln gehalten haben, und plötzlich ist alles scheißegal." Von solchen Kipp-Momenten in den Leben der Angeklagten, in denen alles Frühere plötzlich scheißegal ist - und sie ihr Klappmesser zücken, um sich endlich Luft zu machen statt weiter alles runterzuschlucken, erzählen Rezas packende Fall-Geschichten.
Es sind Stories, die genau dann einsetzen, wenn das Unglück bereits geschehen ist - und ihre Autorin die Scherben irgendwelcher zu Bruch gegangener Existenzen besichtigt, ohne zu bewerten. Denn darin besteht nach wie vor ihre erzählerische Kunst: allein durch vorurteilsloses Zeigen und Beschreiben komplexer Zusammenhänge auf gerade mal einer Buchseite ganze Lebensläufe zu verdichten. Exemplarisch führt sie dies in der Titelgeschichte der Sammlung, „Die Rückseite des Lebens“, vor.
Édith Scaravetti hat ihren Mann Laurent Baca nachts mit einer Kugel aus einer 22er Long Rifle in die Schläfe umgebracht…Eines Morgens erzählt sie den Kindern, Laurent schlafe auf dem Wohnzimmersofa. Sie fährt sie zur Schule, dann versteckt sie die Leiche auf der Terrasse unter der Laube. Ein paar Tage später schleift sie sie, weiß Gott wie, ans Ende des Gartens, gräbt ein Loch und verscharrt sie darin.
Entrollt wird die Geschichte einer vom Leben überforderten Frau, die als 12-jährige vergewaltigt wurde, und einen Großteil ihrer Jugend damit zubrachte, ihren an Alzheimer erkrankten Großvater zu pflegen. Freunde hatte sie nicht.
Laurent holt sie aus dieser Vereinsamung. Sie lieben sich. Er ist genauso labil. Eine Zeitlang sind sie glücklich. Bis das Unglück und alle möglichen Verletzungen wieder hochkommen. Bis sie ein immer schwerer werdendes Leben stemmen muss: das Haus, die Einkäufe, die Kinder, den tyrannischen Mann, den Alkohol, zudringliche Freunde.
Was hier in der Form der sogenannten Gerichtsreportage daherkommt, ist auf das Subtilste betriebenes Menschen-Studium. Das Resultat sind Kurzporträts von Überforderten, Aus-der-Haut-Gefahrenen und Verzweifelten, die aufgehört haben, sich länger in sich selbst auszukennen - und plötzlich ihren niederen Instinkten ausgeliefert sind.
Reza beschreibt Menschen, die vor den Trümmern ihres Lebens stehen. Doch durch die Art, wie sie es tut, gewinnen sie urplötzlich ihre scheinbar verloren gegangene Menschlichkeit zurück.
Durchsetzt werden ihre Prozessberichte von Schilderungen persönlicher Begegnungen mit guten Freunden - Snapshots wie im Vorbeigehen gemacht. Die stille Wucht der Gerichtsprotokolle aber besitzen sie nicht.
Yasmina Reza
"Die Rückseite des Lebens"
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Hamm
Hanser Verlag
200 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-446-28369-5
Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 24.03.2025 auf SR kultur.