Christian Kracht: "Air"
Christian Kracht gehört zu einem der wichtigsten deutschsprachigen Autoren seiner Generation. Sein neuer Roman „Air“ ist soeben für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden. Knut Cordsen hat das Buch gelesen und mit Christian Kracht gesprochen.
„Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich.“ So lautet der erste Satz von „Air“, und in diesem aus dem Englischen entlehnten „but also not really,“, dem lässigen Abmoderieren der aufgeblasenen Geste hat man Christian Kracht im Kern. Man könnte sagen, in diesem Buch wird von Anfang die Luft herausgelassen.
„Ja, erste Sätze sind schön, wenn sie klappen. Ich glaube, dieser ist ganz gut.“
Und damit willkommen im Spiegelkabinett des Christian Kracht, in einem Roman, der so schwer zu fassen ist wie die „Luft“, die ihm den Titel gibt. Wie kam es dazu?
„Ach, das weiß ich auch nicht. Das kann ich Ihnen nicht erklären. Es gab eine Menge Titel, und irgendwann habe ich dann diesen gefunden. Und lustigerweise gibt es keinen einzigen Roman auf der Welt, der ‚Air‘ heißt. Obwohl das ja eigentlich so ist, als ob man einen Roman ‚Wasser‘ nennt oder ‚Nebel‘ oder ‚Schnee“ – aber ‚Air‘ gab’s noch nicht, und das fand ich dann sehr gut. Und dann sagte meine Tochter noch: Schau mal, Papa, in dem Titel ist AI drin, das fand ich dann auch gut, aber da war’s schon entschieden.“
„Air“ ist die sich sehr leicht lesende Geschichte des Innenarchitekten Paul, der auf einer abgeschiedenen Orkney-Insel lebt und den Auftrag erhält, das in Norwegen gelegene Green Mountain Data Center in ein „perfektes Weiß“ zu kleiden. Dieses Rechenzentrum ist eine streng bewachte Kaverne, die unfassbare Datenmengen beherbergt. „Dort wohne im Grunde die Cloud“, schreibt der 58-jährige Kracht, der diesen Speicherort unseres digitalen Lebens vor zehn Jahren selbst besucht hat.
„Das ist wirklich ganz erstaunlich, das ist so hinter einem Fjord, plötzlich sind da bewaffnete Menschen, dann kann man da aber reingehen und diese riesigen Hallen bewundern, in denen Apple, Google ihre ganzen Sachen aufbewahren.“
Auch Paul geht dort hinein, just in dem Moment, in dem eine gewaltige Sonneneruption einen „schockwellenartigen Magnetsturm“ mit Lichtgeschwindigkeit auf die Erde zurasen und alles Leben, den gesamten Planeten verschwinden lässt. Das ist dann die Stelle, wo man an Filme wie Lars von Triers „Melancholia“ denkt.
„Das ist lustig, dass Sie das erwähnen, weil: ich gehe nie aus dem Kino, ich schaue mir immer alles zu Ende an, und Lars von Triers Filme, da gehe ich immer raus, weil ich die wirklich so misslungen finde und prätentiös und furchtbar, und ‚Melancholia‘ ist gerade noch so erträglich, aber ich bin da auch rausgegangen.“
Schade eigentlich, aber der Leser von „Air“ verlässt diesen Roman nicht vorzeitig. Denn jetzt nimmt alles erst richtig Fahrt auf. Paul wechselt in ein völlig anderes Dasein, in eine Fantasy-Welt, in der mit „weißen Keramikpistolen“ geschossen und Eiswüsten durchquert werden müssen. In der auch seltsamerweise immer wieder auf jenen Ort zurückgekommen wird, an dem George Orwell seinen Dystopie-Klassiker „1984“ geschrieben hat in völliger Isolation: Barnhill auf der schottischen Insel Jura.
„Jaja, ich war da mal, das ist tatsächlich die einsamste Insel der Inneren Hebriden, es ist wahnsinnig schwer, da hinzukommen, und man muss da eine lange Straße hochfahren, achtzig oder hundert Kilometer, dann ist eine Kette gespannt und dann muss man noch 13 Kilometer zu Fuß gehen, dann erreicht man Barnhill, wo George Orwell im Sterben lag, während er ‚1984‘ schrieb – es ist für den Protagonisten ein Sehnsuchtsort, wo er aber nie hinkommt. Und er kommt dann am Schluss dann doch da irgendwie hin.“
Christian Kracht hat mit „Air“ einen verrätselten, ja „airratischen“ Roman geschrieben, ein modernes Märchen, eine Sage, für die, die noch an solche glauben mögen.
Christian Kracht
"Air"
KiWi Verlag
224 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-3-462-00457-1
Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 13.03.2025 auf SR kultur.