Claudie Hunzinger: "Ein Hund an meiner Tafel"

Claudie Hunzinger: "Ein Hund an meiner Tafel"

Tobias Wenzel   09.12.2024 | 18:00 Uhr

Für Claudie Hunzingers neuen Roman „Ein Hund an meiner Tafel“ hat die französische Schriftstellerin den Prix Femina erhalten. Nun wurde er in zahlreiche Sprachen übersetzt. Tobias Wenzel hat den Roman gelesen.

War das der Anbruch der Nacht? Die Farbe der Moräne änderte sich.

Sophie, eine alte Schriftstellerin, erinnert sich, wie sie einmal auf der Schwelle ihres Hauses im Wald in den Vogesen saß und einen Schatten wahrnahm:

Ich sah diesen Schatten zwischen den Farnwedeln hindurchkriechen, das Lager der Fingerhüte durchqueren. Ich erkannte sofort die zerbrochene Kette. Ein Flüchtiger.

Es ist eine ausgerissene Hündin. Ihr Geschlechtsteil ist stark verwundet. Offensichtlich wurde sie von einem Zoophilen missbraucht. So lässt Claudie Hunzinger ihren Roman „Ein Hund an meiner Tafel“ beginnen. Erst verschwindet die Hündin noch einmal. Aber dann nehmen Sophie und ihr Mann Grieg das Tier auf. Mit Folgen für das Ehepaar.
Schon als junge Erwachsene sind Sophie und Grieg in die Einöde der Berge gezogen. Eine bewusste Entscheidung: Weg von der Zivilisation, hin oder zurück zur Natur. Nun, im Alter, sucht Sophie nur noch die Stadt auf, um Einkäufe zu machen oder aus ihren Büchern zu lesen. Grieg aber verlässt kaum noch sein Zimmer voller Bücher. Die Menschheit zerstört sich selbst, ist er sich sicher. Und so erkundet er lieber lesend fiktive Welten. Als seine Frau einmal für sich einen ganzen Stapel Bücher zu Postkolonialismus und Gender Studies bestellt, weil sie wissen möchte, was es damit auf sich hat, ahnt er, dass das keine gute Idee ist. Sie stellt die Bücher schließlich ungelesen ins Regal:

Von diesen neuen Büchern ging ein derartiger Glanz aus, es genügte, sie anzusehen. Es war, als hätte ich alle auf einmal gelesen, als wüsste ich schon alles, was nicht der Fall war. Doch da war diese leise Stimme, die mir riet, dorthin zurückzukehren, wo ich herkam. Ideen sind nichts für dich. Feg sie weg. Philosophiere nicht. Lass das Theoretisieren, es ist nicht dein Gebiet. Du bist keine Ornithologin. Du bist ein Vogel. Singe. Mehr verlangt man nicht von dir. Zurück mit dir ins Gestrüpp.

„Ein Hund an meiner Tafel“ dürfte stark autobiographisch sein. Auch Claudie Hunzinger lebt mit einem Mann in den Vogesen. Ein Hund läuft einem alten Ehepaar zu und verändert dadurch auch das Paar – mehr passiert in diesem Roman nicht, könnte man denken. Aber Hunzinger lehrt uns Leser, jede Regung der Natur als ein Ereignis zu begreifen, und sensibilisiert uns für die Eingriffe des Menschen. Plötzlich zucken auch wir zusammen bei der Beschreibung eines Scheinwerferlichts im dunklen Wald. Sind das die zoophilen Tierquäler?
In Claudie Hunzingers Sprache einzutauchen, ist ein großer Genuss. Unprätentiös und feinfühlig, erdig und schön sind ihre Worte. Dank Timea Tankós formidabler Übersetzung auch im Deutschen. Sie trifft exakt den Ton dieser eigenbrötlerischen wie sensiblen Ich-Erzählerin, die sich manchmal in den Bergen auf die Lauer legt, um heimlich Wanderer zu beobachten, weil sie eben doch als Mensch den Menschen sucht. 
Bis zu ihrem unerwarteten Verschwinden beeinflusst die Hündin ein Dreivierteljahr lang das alte Paar. Die Eheleute schlafen plötzlich nicht mehr in getrennten Betten. Seit langem empfinden Sophie und Grieg wieder sexuelle Anziehung. Bei einem Spaziergang beobachten sie kopulierende Kröten in einem Teich:

Hörst du dieses Konzert der pulsierenden Vaginen? Er erwiderte: Wenn du nicht gleich aufhörst, kann ich mich nicht zügeln. Ich hörte nicht auf. Ich sah in seinem Gesicht, dass er von der Lust besiegt wurde, nun zügelte er sich auch nicht mehr, und alles ging Hand in Hand, ergänzte sich auf vollkommene Weise: Der wunderbare Schlamm des Morasts reagierte auf die vom Wind gekräuselte Oberfläche des Teiches; die Krötenweibchen riefen die Krötenmännchen und machten – für uns – gemeinsam das sehr Pornografische, was sie tun mussten, und wir machten – für sie – etwas, das sie nicht kannten, etwas sehr Verliebtes.

„Ein Hund an meiner Tafel“ ist ein sensationell gut geschriebener Roman über unser Verhältnis zur Natur und über die Liebe eines alten Aussteigerpaars.

Claudie Hunzinger
"Ein Hund an meiner Tafel"

Rowohlt Verlag, 288 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-498-00375-3

Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 09.12.2024 auf SR kultur.

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