Sternstunden des Radios
Kurz vor seinem Tod blickte Hermann Glaser zurück auf seine persönliche Beziehung zum Radio. Seine "Radio-Sternstunden" gibt es hier zum Anhören und Nachlesen.
Radiosendungen spielen in meinem Leben, das sich über neunzig Jahre erstreckt, eine große Rolle; sie sind gewissermaßen „Einkerbungen“ in meine Biografie oder „Zäsuren“ (im lexikalischen Sinn: „Einschnitte von existentieller Bedeutung“). Diese Rundfunkerlebnisse, oft nur eine kurze Nachricht oder eine Musiksequenz, „Sternstunden“ zu nennen, zögere ich, da man mit diesem Wort glückliche Ereignisse verbindet.
Aber das war bei meinen radiophonen Augenblicken nicht immer gegeben – zumindest nicht, wenn sie mit dem geschichtlichen Geschehen verknüpft waren. Aber wenn man die astrologische Semantik des Begriffs als Konstellation der Gestirne mit widersprüchlicher Bedeutung begreift, so wage ich summa summarum meine berichtenswerten tonalen Erlebnisse als „Sternstunden“ des Daseins und Soseins zu benennen. Sie seien chronologisch aufgelistet.
Die Sternenstunde meiner Kindheit
Die erste Sternstunde ist mir nur aus den Berichten meiner Eltern und auch aus Fotos des Familienalbums bekannt. Als Dreijähriger, das war 1931 (übrigens das Jahr, in dem die Ausrichtung der zweiten Fürther Funkausstellung der Großfirma „Radiovertrieb Max Grundig und Kompagnon“ öffentliche Aufmerksamkeit erregte), sitze ich im Gartengras neben einem von meinem Vater selbstgebastelten Radio-Gerät und hopse bei der von diesem ausgestrahlten Musik auf und ab.
Die Töne kamen – wie mein Gesichtsausdruck zeigt – offensichtlich gut an. Vielleicht (das will ich imaginieren) wurde der Schlager „Veronika, der Lenz ist da“ übertragen. Mein Vater geriet in Konflikt mit seinen Eltern, weil er nicht nur zu den ersten Rundfunkenthusiasten, sondern auch zu den ersten Automobilisten gehörte und diese solches „modernes Teufelszeug“ ablehnten.
Wann genau das Radio in unser Wohnzimmer kam, ist familiengeschichtlich nicht belegt. Für die Vermutung jedoch, dass meine Eltern unter den ungefähr fünfhundert Radioempfängern waren, die man im Dezember 1923 registrierte, spricht viel.
Die Großeltern meinten, dass „das Gute, Schöne und Wahre“ durch Technik gestört oder zerstört würde. Im Wohnzimmer stand ein Flügel; der war ein Heiligtum. Mein Vater widersetzte sich solcher Einseitigkeit; er war zwar auch den Humaniora zugetan, schätzte jedoch den zivilisatorischen Fortschritt gleichermaßen.
Bei einem Weihnachtstreffen schenkte er seinen Eltern einen Artikel von Bruno Krützfeldt in der Rundfunkzeitschrift „Die Sendung“ (Berlin 1926): „Der Rundfunk als Erlöser der Menschheit“. „Darum, Menschheit wache auf, damit wahr werde jenes einzige allumfassende Gebot 'Liebe deinen Nächsten wie Dich selbst'.“
Auch meine andere Großmutter stand den technischen Innovationen mehr verwundert als bewundernd gegenüber („Wo soll denn das alles hinführen!“). Der Großvater jedoch erwarb gerne moderne Gerätschaften, sobald sie auf den Markt kamen; er empfand dies als Ausdruck deutschen Fortschrittsgeistes und natürlich auch als Verstärkung seines persönlichen Prestiges.
So gehörte er zu den ersten im Dorf, die sich ein Telefon und ein Auto anschafften. (Zwei Oldtimer standen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges verstaubt und langsam zerfallend in einem Schuppen des Anwesens und wurden dann verschrottet.) Man kann also annehmen, dass meine Mutter, ehe sie nach ihrer Heirat in die Großstadt zog, das Radio sehr früh kennengelernte hatte.
Radio im Dritten Reich – Propaganda und Widerstand
Im Dritten Reich war der Rundfunk zwar der verlängerte Arm staatlicher Allmacht, die brutal in den Innen- und Freiraum der Familien einbrach; die Stimme des „Führers“ und seiner Mannschaft konnte man jedoch, während die meisten hingerissen lauschten, abschalten. Das Anschalten des Geräts, allerdings auf „anderer“ (nicht-deutscher) Wellenlänge, bedeutete Widerstand.
Die Freiheit des Mediums verdinglichte sich für mich in den kleinen Glasblättchen, die zur Markierung der ausländischen Sendestationen mit Hilfe einer Pinzette auf der Skala des Geräts eingeklemmt wurden; sie übten eine magische Faszination aus; im Krieg haben wir sie dann vorsichtshalber entfernt. Der Wellensalat war ein köstliches „Gericht“; das Stimmengewirr, auch wenn man die Sprachen meist nicht verstand, empfand man als erhellende Botschaft, die in die dumpfe Provinz einbrach.
Am 17. September 1941 ergingen die ersten Todesurteile wegen des Hörens von „Feindsendern“. Unser Radiogerät im Wohnzimmer wurde nun oft verdeckt benutzt. Unter einem übergestülpten Betttuch hörten wir BBC, London. Der „Großdeutsche Rundfunk“ vermittelte in den Nachrichten mit den täglichen Wehrmachtsberichten ein propagandistisches Bild der Lage.
Als nach den deutschen Siegeszügen die Wende eintrat und der Untergang des Dritten Reiches sich andeutete, konnte man dies auch im Rundfunk nicht völlig leugnen. Je näher das Ende kam, um so lauter stellte mein Vater das Radio ein – öffnete sogar häufig die Fenster, damit der nationalsozialistische Nachbar nicht überhörte, welche Stunde nun geschlagen hatte.
Doch gab es auch eine unpolitische Dimension der Rundfunksendungen. Bei Krankheiten wurde mein Bett auf der Couch in der Nähe des Geräts bereitet; denn zu viel sollte ich bei Fieber nicht lesen. Natürlich war man nicht gerne krank; aber Krankheiten hatten, da man dann so viel Radio hören konnte, auch etwas Verlockendes. „Allerlei zwischen zwei und drei“ behielt ich als Titel für funkische Kurzweil besonders gut im Gedächtnis.
Unser Wegbegleiter während des Zweiten Weltkriegs
Im Rückblick bedeutet der Tag des Kriegsausbruchs, der 1. September 1939, für mich einen Tag, in dem die verschiedenen Rundfunk-Erfahrungen zusammenfließen: Ich war krank und lag auf der Couch vor dem Radiogerät.
Selbst an diesem Tag gab es noch das eine oder andere Unterhaltsame zu hören; (aber natürlich war alles überlagert von dem Siegestaumel, in dem Hitler mit tobender Stimme den Beginn des Krieges verkündete). Meine Eltern kamen immer wieder zum Radiogerät, um mit zornigem und schmerzvollem Gesicht das lautsprechende Unheil über sich ergehen zu lassen. Nachts dann der verdeckte Empfang ausländischer Nachrichten: angesichts der Schwäche der demokratischen Staaten hoffnungslose Informationen. Es folgten sechs bittere Jahre; aber wir überlebten.
Das Radiogerät hat uns beim Ausharren geholfen. Keine Tonkombination hat sich in meinem Bewusstsein seit dieser Zeit so tief eingekerbt wie das Pausenklopfzeichen von BBC/London. Als meine Mutter und ich wegen der Bombenangriffe aus der Großstadt aufs Land evakuiert wurden, hatten wir „Doppelempfang“: Mein Vater, der in der Stadt bleiben musste, verkroch sich, das Ohr am Radiogerät, zu bestimmten Abendstunden weiterhin unter der Decke; ich selbst hatte es etwas schwieriger, da wir in unserem kombinierten Schlaf-Wohnraum über kein Rundfunkgerät verfügten und ich das meiner benachbart wohnenden Tante benutzen musste.
Sie hatte die angenehme Eigenschaft, sehr früh zu Bett zu gehen. Das Gerät stand in der Küche, oben auf dem Küchenschrank. Ihr Mann war NS-Funktionär, aber während der Woche auswärts beschäftigt. Aus irgendeinem Anlass kam sie gelegentlich nachts in die Küche zurück und fand mich dann auf dem Stuhl stehend, mit dem Ohr an dem ganz leise eingestellten Radio. In ihrer Naivität nahm sie die wohl ziemlich phantastisch klingenden Begründungen für meine „abgehobene“ Position unbefragt hin; vielleicht schöpfte sie auch Verdacht, ohne der Sache weiter nachgehen zu wollen.
Gelegentlich – Wiederholungen waren da gefährlich – konnte man auch offen Feindsender „abhören“; dann freilich nicht BBC/London, sondern einen der alliierten Soldatensender, die den NS-Propagandaton raffiniert imitierten, aber immer wieder Wahrheiten einstreuten.
In der großväterlichen Wirtschaft unterbrach der Honoratiorenstammtisch, zu dem der Ortsgruppenleiter gehörte, das Kartenspiel, um die Nachrichten zu hören. Mein Großvater drehte das Gerät an und, wie üblich, gleich laut auf; ich hatte jedoch die Einstellung in Richtung eines alliierten Soldatensenders verschoben, so dass er in den falschen Kanal geriet. Das fiel zunächst nicht auf, denn im frisch-fröhlich-siegessicheren Starck-Teutsch verkündete der Nachrichtensprecher den Rückzug an allen Fronten. Betretenes Schweigen, rasches Weiterdrehen, bis man wieder bei einem großdeutschen Lügensender angelangt war.
Lichtblick/Sternenstunde nach dem Krieg
Einige Wochen nach der totalen Niederlage hörte ich im Radio Beethoven; ich weiß nicht, war es nun die dritte oder fünfte oder eine andere Symphonie; meine musikalische Sozialisation ließ mich jedenfalls eindeutig eine Beethoven'sche Symphonie identifizieren.
Ich versuchte, meine dadurch ausgelöste innere Bewegung der Verwandtschaft zu erklären, was misslang. Doch ergriff mich die Sehnsucht nach einem anderen, eben nicht kleinbürgerlich-ländlichen Leben so sehr, dass ich, allein auf dem Fahrrad, mich bei den amerikanischen Kontrollposten jeweils als ein Junge vom nächsten Dorf ausweisend, in die Großstadt zurückkehrte, wo mich mein Vater ängstlich erwartete. Damals, an einem wunderschönen Tag des Juni 1945, trat ich in die Pedale des klapprigen Rades mit dem Glücksgefühl des befreiten Lebens.
Das durch die Rundfunkübertragung vermittelte Erhabene bewirkte das Bewusstsein, dass nun, da mit der totalen Niederlage die verhängnisvolle Herkunft beendet schien, eine verheißungsvolle Zukunft beginne. Und da erst einige Monate vorher meine Kurzsichtigkeit entdeckt worden war und ich trotz Mangelwirtschaft noch eine Brille hatte bekommen können, sah ich die Welt klar, in bislang nur geahnter Perspektive, vor mir liegen.
Wenig später hörte ich im Wohnzimmer unserer schwer beschädigten Wohnung in „radiomunich“, einem Sender der amerikanischen Militärregierung, den Song von Cole Porter: „Don’t fence me in“. Das war ein Lebensmotto, das mich zeitlebens begleitete.
Allerdings waren die Glücksgefühle, nun vom Nationalsozialismus befreit zu sein – in Erwartung eines Lebens in Freiheit und Demokratie – überschattet von den täglichen abendlichen Sendungen, die vom Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess berichteten und die furchtbaren nationalsozialistischen Verbrechen offenbarten.
Aber das „Prinzip Hoffnung“ klammerte sich eben an die Goethe-Maxime, die zwar nur ein Optativ, eben eine Wunschform war, aber auch ein Konjunktiv, eine Möglichkeitsform ist: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“
Das ist auch der Bildungsauftrag, der vom Medium Rundfunk wahrzunehmen und zu verwirklichen ist – in Gegenwart und in Zukunft.