"Wir sind Moderatoren des gesellschaftlichen Diskurses"
Seit heute ist Armgard Müller-Adams als neue Chefredakteurin beim Saarländischen Rundfunk im Dienst. Im Interview erzählt sie von ihrem Werdegang, ihren Zielen für den neuen Job und warum es für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk so wichtig ist, im Internet präsenter zu werden.
Du warst viele Jahre in der Intendanz, hast Dich mit Unternehmensentwicklung beschäftigt, den Intendanten beraten, vorher warst Du zwölf Jahre lang Reporterin für Wirtschaftssendungen und Reiseformate, auch die SR 2 Medienwelt hast Du moderiert - was bedeutet der „Job“ Chefredakteurin für Dich?
Zunächst einmal scheinen sich die Begriffe ja zu widersprechen - Chef oder Chefin und Redakteur, denn wir Journalisten sind ja eigentlich dazu da, das Autoritäre zu hinterfragen. Für mich geht es bei dem „Job Chefredakteurin“ nicht darum, anderen ganz genau vorzuschreiben, wie sie ihre Beiträge zu gestalten haben. Ich interpretiere den Begriff eher so: Die Chefredakteurin sorgt dafür, dass andere ihre Arbeit gut und erfolgreich machen können. Dazu gehört, dass wir uns darauf verständigen, was wir erreichen wollen, dass wir gemeinsam reflektieren, ob wir diese Ziele erreicht haben und dazu gehört auch, dass ich immer wieder dazu ermutige, Neues auszuprobieren, dabei aber auch selbst vorneweg gehe.
Musstest Du lange überlegen, als der Intendant Dich gefragt hat, ob Du den Job annehmen willst?
Nein und dann wieder doch. Denn ich hatte in der Intendanz ja nun auch eine tolle Aufgabe. Thomas Kleist hat mir ermöglicht, das Projekt „Wir im SR“ aufzulegen, auf dessen Grundlage wir uns entschieden haben, agile Entscheidungsfindungsprozesse im SR einzuführen. In den agilen Teams wenden wir nun die Methode Design Thinking an - und das erfolgreich, darüber bin ich sehr froh. Ich weiß, manche denken, das ist nur eine Wellness-Mode. Andere halten es für die Einübung der Anarchie. Es ist keines von beiden. Es ist ein Ansatz, der dezidiert das Bedürfnis des Menschen in den Mittelpunkt stellt, in unserem Fall also das Bedürfnis des Zuschauers oder der Hörerin und das Bedürfnis des Mitarbeiters, der Mitarbeiterin. Ein zutiefst humanistischer Ansatz. Und ich möchte diesen Ansatz weiter vertiefen. Das kann ich im oder aus dem Programm heraus vielleicht etwas besser als aus der Intendanz, weil wir hier mitten im Geschehen des operativen Geschäfts sind. Insofern hängen meine vorherige Aufgabe, wie ich diese interpretiert hatte, und die Entscheidung, zurück ins Programm zu wechseln, zusammen.
Warum bist Du Journalistin geworden?
Ich war schon sehr früh stark an Politik interessiert. Habe als Schülersprecherin Friedenslesungen und Happenings organisiert, später als AStA-Vorsitzende ging es bei den Demos vor allem um das Recht auf freie Bildung. Ich hatte das Gefühl, dass es nötig ist, Bestehendes zu hinterfragen, nach Alternativen zu suchen, aber vor allem wollte ich im Gespräch, im Kontakt mit anderen Lösungen finden. Der Journalismus bietet die Möglichkeiten dazu: Ich darf Themen recherchieren, in den Filmen Menschen auftreten lassen, die alternative Lösungsvorschläge haben. Deswegen haben mir die eigentlich trockenen makro-ökonomischen Themen auch immer am meisten Freude gemacht und auch der ratgebende Verbraucherjournalismus. Also: die Zusammenhänge didaktisch aufbereiten, dabei auch mal mit den Mitteln der Theaterdramaturgie arbeiten.
Zur Chefredaktion werden am 1. Januar 2020 zwei crossmediale Ressorts gehören - kannst Du für unsere Nutzerinnen und Nutzer erklären, was das eigentlich ist: Crossmedialität?
To cross heißt unter anderem überqueren oder auch eine Brücke schlagen. Crossmedialität bedeutet, dass wir eine Brücke schlagen zwischen den Mediengattungen Video, Audio und Online, sie miteinander verbinden. Wir vernetzen also in den crossmedialen Ressorts Kolleginnen und Kollegen, die bisher meistens getrennt für Fernsehen, Hörfunk und Online arbeiten. Wir organisieren unsere journalistische Arbeit dann nicht mehr nach Ausspielwegen, sondern nach Themen. Und wir wollen dabei vom Digitalen her denken. Es sind also diese drei Dinge, die wir tun: Wir vernetzen die Mitarbeitenden untereinander, planen unsere Themen, mit Blick auf die Rezeption im Internet und werden so dort auch sichtbarer.
Und wieso ist das nötig, diese neue Form der Organisation?
Das hat etwas mit dem Medienmarkt und unserer Konkurrenz dort zu tun. Die ist größer geworden, es sind Player dazugekommen, die eigentlich gar nicht journalistisch arbeiten, wohl aber journalistische und vermeintlich journalistische Arbeiten sozusagen „makeln“. Es sind international agierende Unternehmen mit Monopolstellungen, die mehr und mehr die Aufmerksamkeit unseres Publikums auf sich ziehen. Ich meine Facebook, Amazon und Co.
Gleichzeitig haben sich die Erwartungen unseres Publikums verändert: Unsere Konsumenten wollen Informationen schneller und überall, wollen aber auch hintergründige Dokumentationen und hochwertige Video- und Audioproduktionen. Das produzieren wir alles, das ist nicht unser Problem. Unser Problem derzeit ist, dass unser Publikum diese wunderbaren Arbeiten in der Flut an Angeboten im Netz nicht finden kann. Wir müssen daher unsere Kräfte intern bündeln, damit wir unsere Themen noch einmal anders aufbereiten und besser im Internet platzieren können. Gelingt uns das nicht, verlieren wir an Relevanz und das ist gefährlich - nicht nur für uns als einzelner Sender oder den öffentlich-rechtlichen Rundfunk insgesamt, sondern für unsere Gesellschaft.
Wieso ist das eine Bedrohung für unsere Gesellschaft, wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk an Reichweite einbüßt?
Die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks seit jeher ist es, Moderator des gesellschaftlichen Diskurses zu sein. Diese Rolle ist gerade in Zeiten der Desinformation und Filterblasenbildung wichtig – also jetzt. Unsere Stärke liegt darin, dass wir neutral, so objektiv wie möglich und vor allem wirtschaftlich unabhängig Vorgänge aufbereiten, damit unser Publikum sich eine Meinung bilden und teilnehmen kann an dem gesellschaftlichen Diskurs. So stellen wir Gemeinschaft her. Wenn wir aber im Netz mit unseren journalistischen Inhalten nicht gefunden werden, wenn wir im Newsfeed der Facebook-Nutzer nicht vorkommen, weil der Algorithmus von Herrn Zuckerberg uns rausfiltert und unsere Instagram-Stories von niemanden abonniert werden, dann können wir diese Aufgabe nicht erfüllen. Das wird dazu führen, dass der gesellschaftliche Diskurs ins Stocken gerät, die Gemeinschaft an Zusammenhalt verliert – und eben genau das ist gefährlich für die Gesellschaft. Da schließt sich der Kreis zu dem, was ich eingangs sagte: Wenn wir unsere Themen planen oder neue Formate entwickeln, müssen wir von jetzt an ganz anders denken! Nämlich von der Art und Weise her, wie unsere journalistische Arbeit im Netz rezipiert wird.
Kann künstliche Intelligenz Journalisten dabei helfen, im Netz erfolgreicher und präsenter zu werden?
Ja und nein. KI kann uns unterstützen - wenn wir stets fleißig unsere Metadaten verschriften, dann kann uns KI zum Beispiel helfen Archivmaterial, das wir brauchen, schneller zu finden und neu zu veröffentlichen. Allerdings ist das zunächst auch viel Arbeit für uns Menschen, denn wie gesagt: Wir sind es, die die Metadaten erst mal erfassen und dann die Software damit füttern müssen.
KI kann auch helfen, unserem Publikum personalisierte Empfehlungen zu geben – also nach dem Motto: Wenn Sie diese Sonate mögen, dann mögen Sie sicher auch diese und wenn Sie dieses Feature gehört haben, interessiert Sie auch dieses Thema. Aber ehrlich gesagt finde ich es befremdlich, Menschen derart zu „belauschen“ und ihre Browserverläufe zu beobachten. Mir wäre lieber, unsere Zuschauerinnen und Hörer würden uns freiwillig sagen, was sie präferieren und wir würden daraufhin ein intelligentes Programm zusammenstellen, das aber immer auch Überraschendes, Anderes, Nicht-Vorprogrammiertes enthält. Denn ich finde, diese Automatisierung, die letztlich dazu führt, dass man nur noch hört und sieht, was man mag oder schon kennt, macht unfrei. Das ist eine Art Selbstbevormundung, die verhindert, dass man je wieder Neues kennenlernt. Ich glaube, dann wird man sich kaum noch weiterentwickeln können. Insofern kann Automatisierung das Gegenteil von Individualisierung bedeuteten bzw. das Individuum sehr stark einschränken, ihm den offenen Blick verstellen.
Aber es gibt auch Stimmen, die sagen KI kann journalistische Texte schreiben – sind Menschen in Redaktionen bald überflüssig?
Sicher nicht. Das, was es momentan an journalistischen Texten von KI gibt, das sind eigentlich nur Zusammenstellungen von Daten und Textbausteinen, die wiederum Menschen erstellt haben. Und wenn der Mensch bei der Eingabe Fehler macht - bewusst oder unbewusst - übernimmt die Maschine sie, denn die Maschine denkt nicht eigenständig mit und hinterfragt die Dinge nicht.
Aber was KI gut kann, ist: Korrelationen entdecken. Das kennt jeder aus dem Navi. KI kann sehen, dass an einer bestimmten Stelle mehrere Autos auf einer Autobahn stehen oder sich nur langsam bewegen, also meldet KI: Stau! Was KI uns nicht sagen kann: Warum ist dort Stau. Und selbst wenn KI das könnte - also beispielsweise aus Handykommunikationsdaten herauslesen, dass nach einem LKW Unfall 24 Tonnen Reis auf der A 8 bei Rehlingen liegen, dann kann KI aber immer noch nicht echte Kausalitäten zuverlässig ermitteln, nämlich dann wenn der Faktor Mensch ins Spiel kommt. Nehmen wir das Beispiel Musikhits. KI kann sagen, welcher Song besonders oft runtergeladen, gespielt, geliked wird - aber nicht wieso das an einem bestimmten Tag so ist und an einem anderen Tag nicht. Wir Menschen können das schon besser - weil wir auf Erfahrungen zurückgreifen können und komplexe Zusammenhänge auch intuitiv bewerten können.
Im Journalismus ist das erst recht so: Unsere Menschlichkeit, unsere Intuition und unsere Authentizität sind das, was uns von KI unterscheidet. Gerade im Regionaljournalismus sind diese Werte sehr hoch im Kurs – und im Übrigen kaum zu simulieren. Es würden den Saarländerinnen und Saarländern sehr schnell auffallen, wenn wir letzte Woche nicht wirklich in Herbitzheim auf der Kerb gewesen wären oder beim Zirkus-Konzert in Forbach.
Welche Bedeutung hat der Regionaljournalismus heute? Du hast ja vorhin von der internationalen Konkurrenz um die Aufmerksamkeit unseres Publikums gesprochen – kann da Regionales überhaupt noch mithalten?
Ich glaube, gerade wegen der Globalisierung und der Virtualisierung menschlicher Beziehungen ist die Regionalität Trumpf. Denn die Unübersichtlichkeit und Anonymität des Internets weckt auch eine Sehnsucht nach Nähe und direkten, authentischen Erfahrungen. Das alles können wir als regionaler Sender bieten, das können Google und Co nicht. Sie haben vermutlich auch kein Interesse daran, es wäre ihnen zu mühsam und zu teuer. Außerdem ist das, was die Menschen wirklich bewegt, das, was in ihrem Alltag geschieht. Das hängt zwar mit globalen Entwicklungen zusammen – und wir können heute besser zeigen als früher, wie genau es zusammenhängt. Der Klimawandel ist dafür ein gutes Beispiel, aber wesentlich und damit relevant ist für die Menschen bei aller globalen Vernetzung immer das, was hier und jetzt geschieht.
Wie sieht denn dein erster Arbeitstag aus - was machst Du heute?
Als Erstes habe ich heute Morgen allen Mitarbeitenden der Chefredaktion eine E-Mail geschrieben und ihnen erklärt, wo sie mich von jetzt an finden, dass wir uns aber ohnehin sehr bald persönlich zu einem Gedankenaustausch in kleinen Runden treffen. Dann habe ich die Programmgruppenleiter zu einem Strategietreffen eingeladen. Gegen neun Uhr gehe ich in den Newsroom, um bei der frühen Stehung dabei zu sein für ein Themenupdate, ich will wissen, was heute in den Programmen läuft. Danach werde ich mir den Budgetstandsbericht der Chefredaktion ansehen, um 14.00 Uhr ist die Schalte der ARD-Chefredakteurinnen, um 15.00 Uhr eine Filmabnahme für arte. Währenddessen oder zwischendurch möchten Kollegen vom aktuellen bericht ein paar Bilder mit mir drehen und mich interviewen für einen Beitrag, der am Abend laufen soll. Es kommt aber sicher noch das Eine oder Andere im Laufe des Tages dazu.
Du gehörst als Chefredakteurin zum Kreise derer, die Kommentare in den tagesthemen sprechen – was wünschst Du Dir als erstes Kommentarthema?
Gerade nach den dramatischen Ereignissen bei unseren regionalen Automobilzulieferern und in der Stahlindustrie vergangene Woche wünsche ich mir, dass ich irgendwann kommentieren darf, wie das Saarland den Strukturwandel gemeistert hat und aus der digitalen Disruption eine saarländische Erfolgsgeschichte gemacht hat. Ich hoffe, dass uns das gelingt. Ich sage bewusst „uns“, denn ich sehe den Saarländischen Rundfunk als wichtigen Faktor in diesem Geschehen. Die negativen Folgen der Digitalisierung werden für die Menschen in einer ländlichen Region wie dem Saarland vermutlich als Erste zu spüren sein, so dass wir auch mit die Ersten sein werden, die sich bewegen müssen – und es gibt eine Sache, die Saarländerinnen und Saarländer besonders gut können, die uns dabei helfen wird. Was das ist, verrate ich dann in meinem Kommentar.
Über das Thema wurde auch in der Sendung "Der Morgen" vom 01.10.2019 auf SR 2 KulturRadio berichtet.