Jan Wagner (Foto: SR/Sabine Schmidt-Matt)

Abiturrede 2016: "Gedenke der Lücke"

Ein Plädoyer für Traum, Narrheit und Nutzlosigkeit

  31.05.2016 | 12:22 Uhr

Der Lyriker Jan Wagner hält am 29. Juni im Konzertsaal der Hochschule für Musik Saar eine "Rede an die Abiturientinnen und Abiturienten" des Jahrgangs 2016. SR 2 KulturRadio sendet den Mitschnitt am Dienstag, 5. Juli, ab 20:04 Uhr in "Literatur im Gespräch".

„In einem wiederkehrenden Traum – ich sollte besser sagen: Alptraum, weist er doch alle Merkmale eines solchen auf, dazu die physischen Phänomene wie Herzrasen, Gliederzucken und kalte Schweißausbrüche –, in einem wiederkehrenden Traum also finde ich mich unvermittelt in meinem ehemaligen Gymnasium in einer Kleinstadt nördlich von Hamburg wieder. Die Räume sind erschreckend vertraut, die gebohnerten Gänge, die Tafeln, der Pausenhof, die Fahrradständer, sogar, scheint mir, der Geruch, auch wenn, denke ich kurz, Träume doch für gewöhnlich geruchlos sind, alles ist ganz so, wie es damals war – nur ich bin so alt wie ich mittlerweile eben bin und damit den Schülern, mit denen zusammen ich zu meiner Verblüffung in einem der Klassenzimmer Platz nehme, um ein Vierteljahrhundert voraus. Keines der Jahre, die seit meiner Schulzeit vergangen sind, ist gelöscht, ich habe auch im Traum in Hamburg, Dublin und Berlin studiert, einen Abschluss gemacht, habe eine Reihe von Büchern publiziert und bin als freier Lyriker tätig, verdiene mein Brot – nur entbehre all das, so teilt man mir im Traum bedauernd mit, jeder Grundlage, sei doch mein Abitur und damit alles, was darauf folgte, ungültig; ein Versehen, eine bürokratische Laune, ein Aktenfehler, für den niemand etwas könne, weder ich noch die Verwaltung, an dem aber nicht zu rütteln sei, kurz: ich müsse die Oberstufe wiederholen und, fünfundvierzig Lebensjahre hin oder her, mein Abitur noch einmal bestehen.“

Mit diesem Alptraum beginnt die diesjährige Rede des Lyrikers Jan Wagner an die saarländischen Abiturientinnen und Abiturienten des Jahrgangs 2016 am Mittwoch, 29. Juni, 10.30 Uhr, in der Hochschule für Musik Saar, in der er ein Plädoyer hält für das Innehalten, die windstillen Winkel im Abseits, die (vermeintlich) vergeudete Zeit.

Der Autor

Der Autor und Übersetzer Jan Wagner wurde 1971 geboren, 1992 legte er sein Abitur in Ahrensburg ab. Er lebt seit 1995 in Berlin. Seit 2009 ist er Mitglied der Bayerischen Akademie der schönen Künste, seit 2010 der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und des deutschen PEN-Zentrums. Sein Lyrikband „Regentonnenvariationen“ wurde als erster Lyriktitel mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

Ein Mitschnitt der Veranstaltung „Rede an die Abiturientinnen und Abiturienten des Jahrgangs 2016“ mit Jan Wagner ist zu hören in der Sendung „Literatur im Gespräch“ am Dienstag, 5. Juli, 20.04 Uhr, auf SR 2 KulturRadio.

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